Die Erkenntnis traf Conn wie ein Keulenhieb.
Furcht schlich sich in sein Herz, die hässliche Einsicht, in Dinge verwickelt zu sein, denen er nicht gewachsen war. Dann jedoch wurde ihm klar, dass ihm das Schicksal auch eine mächtige Waffe in die Hand gespielt hatte. Ausgerechnet der Mann, der seine geliebte Nia getötet hatte, sollte im Auftrag des Königs zum Mörder an dessen Bruder werden – und er war der Einzige, der davon wusste!
Conns Angst wich jäher Euphorie. Er war nicht länger hilflos, hatte etwas gegen de Rein in der Hand. Schon im nächsten Moment jedoch ließ seine Begeisterung wieder nach. Es gab für das, was er gehört hatte, nicht den geringsten Beweis – wem also würde man glauben, wenn das Wort eines angelsächsischen Diebes gegen das eines normannischen Edlen stand? Noch dazu, wo der König selbst in die Sache verwickelt war?
Conns Hoffnung zerschlug sich so rasch, wie sie aufgekommen war. Er erwog kurz, Baldric und seine Gefährten ins Vertrauen zu ziehen und ihnen von seinen Erlebnissen in London zu berichten, aber er verwarf den Gedanken sofort wieder.
Zugegeben, er kannte sie nun einige Wochen und hatte die Erfahrung gemacht, dass wohl nicht alle Normannen jene eingebildeten, menschenverachtenden Bastarde waren, für die er sie stets gehalten hatte. Aber konnte er ihnen vertrauen? Sicher nicht. Conn zweifelte nicht daran, dass ihre Geduld mit ihm ein rasches Ende nehmen würde, wenn er anfing, den König oder auch nur einen seiner Getreuen eines Mordkomplotts zu bezichtigen, zumal er nicht einen einzigen Beweis in der Hand hatte. Er musste also schweigen und sein Wissen für sich behalten, wenn er sich nicht um Kopf und Kragen bringen wollte.
Guillaume de Rein musste warten.
Vorerst.
»Was hast du?«, erkundigte sich Bertrand grinsend, der die plötzliche Blässe in Conns Gesicht bemerkt hatte. »Ist das fränkische Bier zu stark für dich?«
Conn, der den plötzlichen Drang nach frischer Luft verspürte, nickte knapp, dann stand er auf.
»He«, knurrte Baldric. »Wo willst du hin?«
»Nach draußen.«
»Und der Schild?«
Conn gab ihm das schwere Stück, und der Normanne nahm es mit prüfendem Blick in Augenschein. »Gute Arbeit«, lobte er schließlich. »Wie immer.«
»Also bin ich für heute entlassen?«
»Natürlich«, entgegnete Baldric ein wenig zögernd, so als wäre Conns innerer Aufruhr ihm nicht verborgen geblieben. »Aber entferne dich nicht zu weit, hörst du?«
Baldrics einzelnes Auge musterte ihn, und Conn beschlich wieder einmal das Gefühl, dass der Normanne damit mehr und tiefer sehen konnte als andere mit zweien. »Sieh dich vor, Conwulf, hörst du? Nicht alle Streiter im Heere Christi sind vom gleichen guten Willen beseelt. Wo viel Licht, ist auch Schatten. Zudem bist du das Leben in steinernen Städten nicht gewohnt. Halte dich von dunklen Gassen fern.«
»Ich verstehe, Herr«, versicherte Conn. Er nickte Baldric und den anderen zu und wandte sich zum Ausgang, den zu erreichen alles andere als einfach war. Die Taverne war zum Bersten mit Soldaten und Knappen gefüllt, die sich an den Tischen drängten und ihre Unruhe mit Würfelspielen und schäumendem Bier bekämpften. Die Luft war stickig, sodass Conn froh war, als er endlich die Tür aufstieß und ins Freie trat – obwohl auf der Straße kaum weniger Betriebsamkeit herrschte.
Zwar stand der Mond längst am Himmel, doch das Leben in der Stadt wollte keinen Augenblick lang innehalten. Nicht nur die Tavernen, auch die Läden waren weiterhin geöffnet, und im Licht von Fackeln und Laternen wurde weiter gefeilscht und verhandelt. Zumindest die Schankwirte, Handwerker und Kaufleute von Rouen, dachte Conn, hatten bei diesem Feldzug schon gewonnen.
Im Bemühen, einen ruhigen Platz zu finden, wo er seine Gedanken ordnen konnte, ließ er sich vom Strom der Passanten mitreißen. Im Gefolge einer Gruppe dänischer Söldner, die ihre runden Schilde auf dem Rücken trugen, gelangte er auf einen von hohen Häusern umlagerten Platz, der von Fackelschein beleuchtet wurde und in dessen Mitte es einen erhöhten, von Natursteinen ummauerten Brunnen gab. Kämpfer, die kein Obdach mehr gefunden hatten, aber auch nicht außerhalb der Stadt kampieren wollten, lagerten auf den Stufen, zusammen mit einigen Knechten und Dienern.
Auf der Ummauerung des Brunnens jedoch stand weithin zu sehen ein blasshäutiger Mann mit einer Habichtsnase und kurzem rotblonden Haar, in das eine Tonsur geschoren war. Die schwarze Kutte mit den weiten Ärmeln und der spitz zulaufenden, zurückgeschlagenen Kapuze wies ihn als Angehörigen des Benediktinerordens aus. Helle Erregung sprach aus seinen Augen, seine hohlen Wangen waren von Eifer gerötet, während er mit lauter Stimme rief: »Hört mich an! Ihr alle, die ihr euch auf den Weg begeben wollt, um das Grab Christi aus den Händen der Ungläubigen zu befreien! Hört mich an!«
Seine Stimme, die einen sonderbar harten Akzent aufwies, war laut genug, um auch in den letzten Winkel des Platzes zu dringen, und sie hatte etwas an sich, dem Conn sich nicht entziehen konnte. Vielleicht war es aber auch nur die Begeisterung des Mönchs, die ihn wie viele andere dazu bewog, den Worten des Mannes zu lauschen. Überall auf dem Platz unterbrachen die Leute ihre Tätigkeiten. Gespräche verstummten, Geld hörte auf zu klimpern, Würfel blieben in den Bechern.
»Ihr alle, die ihr euch hier versammelt habt«, fuhr der Ordensmann fort, »seid dem Aufruf seiner Heiligkeit des Papstes gefolgt, der seine vielgeliebten Brüder dazu aufgefordert hat, die Pilgerwege zu sichern und das Heilige Land den Klauen jener zu entreißen, die es widerrechtlich an sich genommen haben!«
Zustimmung wurde hier und dort bekundet, Fäuste reckten sich triumphierend in den sternklaren Himmel.
»Aber wusstet ihr auch, meine Brüder, dass der Herr selbst seine Zeichen geschickt hat?«, fragte der Mönch in die Menge. Beifall heischend ließ er seinen Blick über die Männer und Frauen schweifen, und Conn hatte das Gefühl, dass er auch auf ihm einen Moment lang ruhte. Eine seltsame Stimmung erfasste ihn. Zusammen mit der Unruhe, die ihn seit Tagen erfüllte, und seiner noch immer schwelenden Trauer verband sie sich zu einer eigenartigen Melancholie, die ihn in seinen Gedanken innehalten ließ und ihn dazu zwang, den Worten des Predigers zu lauschen.
»Was für Zeichen?«, fragte jemand aus der Menge.
»Zeichen von großer Macht und noch größerer Bedeutung«, erwiderte der Mönch, wobei er die Fäuste ballte und sie demonstrativ zum Himmel reckte, »nicht nur hier auf dem Festland, sondern auch drüben in England und anderen Teilen der Welt! Vor zwei Jahren gab es in Burgund eine verheerende Hungersnot, weil eine wochenlange Regenflut die Ernte vernichtete. Und während die Menschen in ihrer Not zum Herrn beteten, wurde der Himmel selbst zur Tafel, auf die der Allmächtige seine Botschaft schrieb. Kometen erschienen, sieben an der Zahl, und zogen ihre Bahn am Firmament!«
Ein Raunen ging durch die Menge. Auch Conn war beeindruckt. Ein Komet, das war allgemein bekannt, war stets ein Hinweis auf himmlisches Wirken. Gleich sieben davon jedoch waren in der Tat ein außergewöhnliches Zeichen.
»Und im vergangenen Jahr«, fuhr der Mönch fort, »versank der Himmel über England in einem unirdischen Leuchten, das bis hinauf an die Gestade des Nordmeers zu sehen war!«
Conn nickte. Auch er hatte von dem angeblichen magischen Feuer gehört, von grünen Flammen, die den nördlichen Himmel entzündet haben sollten. Damals hatte er nicht allzu viel darauf gegeben – in diesem Augenblick jedoch, an diesem Ort, in jener eigentümlichen Melancholie, die ihn erfasst hatte, gewann es plötzlich an Bedeutung.
»Weise Männer aus allen Ländern der Christenheit sind zusammengekommen, um über die Bedeutung dieser Zeichen zu beraten. Gelehrte und Kirchenmänner, sie alle kennen nur einen Weg, diese Zeichen zu deuten: Unheil kündigt sich an und wird über uns kommen, zur Strafe dafür, dass wir unsere Pilgerpflichten vernachlässigt und die heiligen Stätten von Heiden haben entweihen lassen! Und es gibt nur einen Weg, dieses Unheil zu verhindern, meine Brüder – nämlich dem Ruf zu folgen, den unser Heiliger Vater ausgesprochen hat. Wir wollen die Wiege unseres Glaubens von frevlerischer Hand säubern und das Reich des Herrn auf Erden errichten. Deus lo vult, meine Brüder – Gott will es!«