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»Wo sind wir hier?«, wollte er in energischem Tonfall von seiner Mutter wissen. Eine endlos scheinende Weile war er ihr durch unterirdische Korridore gefolgt, die vor langer Zeit in den Fels getrieben worden waren, auf dem die trutzigen Mauern von Burg Caen sich erhoben. Welchem Zweck sie einst gedient haben mochten – ob als Behausung, als Kerker oder als Grabstätte –, war nicht mehr zu erkennen. Im Grunde war es Guillaume auch gleichgültig. Er wollte nur wissen, woran er war.

»Warte es ab, Sohn«, antwortete Eleanor mit ruhiger Stimme. Ein Sklave namens Manus ging ihr auf dem Stollen voraus, ein Pikte, der bei einem Zusammenstoß mit den Barbaren in Gefangenschaft geraten war und seither als Leibeigener diente. Anders als die übrigen Sklaven des Hauses de Rein hatte Manus eine vorteilhafte Eigenschaft: Er besaß keine Zunge mehr. Renald de Rein hatte sie ihm herausschneiden lassen, nachdem er ihn bespuckt und beschimpft hatte. Seither war Manus die erste Wahl, wenn es um einen verschwiegenen Helfer ging.

Die Fackel, die der Pikte in seinen schwieligen Händen trug, verbreitete blakenden Schein, dennoch war ein Ende des Stollens nicht abzusehen, und mit jedem Schritt, den es weiter in die Tiefe ging, nahm der ekelerregende Geruch von Moder und Fäulnis zu.

»Ich will aber nicht mehr länger warten, Mutter«, sagte Guillaume. »Ich will endlich wissen, wohin du mich führst.«

»Wozu?«, fragte Eleanor über die Schulter zurück.

»Damit ich mich nicht fühlen muss wie ein unmündiges Kind, sondern selbst entscheiden kann, was ich tun möchte und was nicht«, entgegnete Guillaume in beleidigtem Stolz.

Mit einem knappen Befehl wies seine Mutter Manus an zu verharren. Auch sie selbst blieb stehen und wandte sich zu ihrem Sohn um. Das Gegenlicht der Fackel ließ ihre hagere Gestalt mit dem unförmigen Gebende um den Kopf furchteinflößend wirken. »Du möchtest also frei entscheiden? So wie damals, als du entschieden hast, zur Jagd auszureiten, und um ein Haar im Moor versunken wärst?«

»Damals war ich noch ein Knabe, Mutter, noch keine zehn Jahre alt.«

»Oder wie in London, als du in deinem Zorn beschlossen hast, deinen Trieben freien Lauf zu lassen und dich an einer Sklavin zu vergreifen?«

»A-an einer Sklavin?« Guillaume glaubte, nicht recht zu hören. »Mutter, wie kommt Ihr darauf, mir dies zu unterstellen?«

»Ich habe es an deinen Augen gesehen. Sie ist dir schon im Burghof aufgefallen, nicht wahr? Schon bei unserer Ankunft.«

»Aber ich …«

»Versuche nicht, es zu leugnen. Ich habe dich in die Welt gebracht, Sohn, und ich kenne dich besser als jeder andere. Und selbst, wenn es nicht so wäre – man brauchte dich in jener Nacht nur anzusehen, um zu wissen, dass du dich wie ein Schwein im Dreck gesuhlt hattest. Du kannst von Glück sagen, dass der König junge Männer zu schätzen weiß und an deinem Antlitz größeres Interesse fand als an deiner übrigen Erscheinung. Andernfalls wären wir wohl jetzt nicht hier.«

»Ich … ich …« Guillaume suchte nach Ausflüchten, aber ihm fielen keine ein. Es hatte den Anschein, als könnte seine Mutter geradewegs in seine Gedanken blicken, entsprechend fühlte er sich.

Entblößt.

Machtlos.

Anstelle einer Erwiderung ließ er den Kopf sinken, worauf Eleanors knochige Rechte ihm sanft über den Scheitel strich. »Guillaume«, sagte sie leise, »du bist mein Fleisch und Blut, und ich will nur das Beste für dich. Aber zumindest in dieser einen Hinsicht hat der Baron recht: Du musst erwachsen werden und lernen, Verantwortung zu übernehmen.«

Guillaume nickte, zögernd und gegen seinen Willen. Er hatte es satt, unablässig gemaßregelt zu werden und sich für das, was er war und tat, verantworten zu müssen. Aber sein Verstand sagte ihm, dass Gehorsam eine Notwendigkeit war, der er sich wohl oder übel beugen musste. Noch.

»Das werde ich, Mutter«, versprach er deshalb. »Aber wie soll ich das, wenn ich noch nicht einmal weiß, wohin wir gehen?«

»Zu Freunden«, erwiderte Eleanor rätselhaft. Dann wandte sie sich um und setzte den Weg durch den Stollen fort, Manus hinterher, der wieder mit der Fackel vorausging.

»Freunde?«, hakte Guillaume nach. »Was für Freunde treffen sich an einem Ort wie diesem?«

»Mächtige Freunde.«

»Ach ja? Wenn sie so großen Einfluss besitzen, warum verstecken sie sich dann in einem miefigen Loch wie diesem?«

»Sehr einfach, Guillaume – weil große Macht auch große Gefahren birgt. Und weil umwälzende Ereignisse oftmals im Verborgenen ihren Anfang nehmen. Du solltest nicht denselben Fehler begehen wie der Baron und mich unterschätzen.«

»Das tue ich nicht, Mutter«, beeilte Guillaume sich zu versichern.

»Oder glaubst du, dass es dein Verdienst sei, vom König mit dieser heiklen Mission betraut worden zu sein?«

»Nun, ich …«

Erneut blieb sie stehen und drehte sich zu ihm um. »Ich hatte alles geplant«, eröffnete sie ihm, wobei sie jedes einzelne Wort betonte und mit ihrem Augenspiel Nachdruck verlieh.

»Ihr hattet es geplant, Mutter?«

Eleanors Mundwinkel verzogen sich in nachsichtigem Spott. »Ich wusste von Anfang an, dass sich der Baron niemals auf Ranulfs Vorschlag einlassen würde, sei es aus falschem Stolz oder aus Unfähigkeit, das Notwendige zu begreifen. Du hingegen warst meine Hoffnung, Guillaume – und du hast sie nicht enttäuscht.« Sie trat auf ihn zu und legte eine Hand auf seine Wange, so wie sie es getan hatte, als er noch ein Knabe gewesen war. »Ich vertraue darauf«, fügte sie hinzu, wobei ihre grünen Augen ihn erneut durchdringend musterten, »dass du sie auch weiterhin rechtfertigst. Daran denke, wenn du diese Pforte durchschreitest.«

Erst jetzt merkte Guillaume, dass der Stollen zu Ende war. Im Halbdunkel, das jenseits des Fackelscheins herrschte, war eine schwere, metallbeschlagene Tür aus Eichenholz zu erkennen, die den Gang versiegelte.

Guillaume fühlte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Ein Schauder befiel ihn, dessen er sich nicht zu entledigen vermochte, gepaart mit leiser Furcht. Doch Eleanor schien noch immer nicht gewillt, ihm den Grund seines Hierseins zu erläutern.

»Geh nun hinein, Junge«, flüsterte sie, »und tue, was das Schicksal von dir verlangt.«

Als wisperndes Echo schwirrte ihre Stimme um Guillaumes Ohren, ehe sie sich in der Tiefe des Stollens verlor. Er machte einen unsicheren Schritt in Richtung der Tür. Als seine Mutter jedoch keine Anstalten machte, ihm zu folgen, hielt er inne.

»Werdet Ihr nicht mit mir kommen?«, fragte er.

»Nicht dieses Mal.« Wieder lächelte sie, und wie zuvor war unverhohlener Spott darin zu erkennen. »Mein Einfluss hat ausgereicht, um dir jene Tür dort zu öffnen, Guillaume. Aber als Frau ist es mir nicht gestattet, sie zu durchschreiten.«

Guillaume nickte. Der Gedanke, zu etwas privilegiert zu sein, schmeichelte ihm und beruhigte ihn ein wenig. Er unterdrückte seinen Wunsch, sofort zu erfahren, was sich auf der anderen Seite befand. Stattdessen atmete er tief ein und straffte seine hagere Gestalt. Dann trat er auf die Tür zu und klopfte dagegen.

Das dicke Holz schluckte das Geräusch, und einen Augenblick hatte es den Anschein, als wollte niemand öffnen. Dann waren leise, schlurfende Schritte zu hören, und eine dumpfe Stimme fragte: »Wie lautet die Losung?«

»Missi fato«, antwortete Eleanor, noch ehe Guillaume etwas erwidern konnte, und zu seiner Verblüffung konnte man im nächsten Moment hören, wie der Riegel auf der anderen Seite zurückgezogen wurde. Von einem metallischen Ächzen begleitet, schwang die Tür auf. Nachdem er seiner Mutter, die im Schein von Manus’ Fackel zurückblieb, einen letzten zweifelnden Blick zugeworfen hatte, trat er in das dahinterliegende Dunkel.

Er war noch keine fünf Schritte gegangen, als die Tür sich bereits wieder schloss. Dumpf und schwer fiel sie zu und sperrte den Fackelschein aus, sodass Guillaume schlagartig von Finsternis umgeben war. Panik wollte ihn überkommen, und er griff unwillkürlich zum Schwert, obwohl es ihm in der Dunkelheit kaum von Nutzen gewesen wäre.