Выбрать главу

»Tretet näher«, forderte ihn eine fremde Stimme auf, die sich seltsam dumpf anhörte.

Guillaumes Fäuste ballten sich in stillem Zorn, den er einerseits auf seine Mutter hegte, weil sie ihn in diese Situation gebracht hatte, andererseits aber auch auf die Veranstalter dieser sonderbaren Darbietung. Sie schien nur darauf ausgerichtet, arglose Besucher einzuschüchtern – und erfüllte diesen Zweck zu Guillaumes Ärgernis voll und ganz.

»Ich kann nichts sehen«, erklärte er, die Furcht in seiner Stimme durch Empörung vertuschend.

»Beati qui non viderunt et crediderunt«, sagte die Stimme. »Tretet näher, Guillaume de Rein.«

Guillaumes Verdruss steigerte sich noch. Nicht weil der geheimnisvolle Sprecher die Bibel zu zitieren wusste, sondern weil er ihn beim Namen genannt hatte und ihm damit ganz offenbar um einige Informationen voraus war.

Des Versteckspielens müde, fasste sich Guillaume ein Herz und trat vor, die eine Hand am Schwertgriff, die andere vor sich ausgestreckt wie ein Schlafwandler, um sich in der Finsternis voranzutasten.

Unvermittelt – er war noch keine drei Schritte gegangen – war ein Rauschen wie von schwerem Stoff zu vernehmen, und von einem Augenblick zum anderen lichtete sich die Dunkelheit.

Ein Vorhang, der das Gewölbe teilte, wurde von unsichtbarer Hand beiseitegezogen und gab den Blick auf den von Fackelschein beleuchteten Rest der Kammer frei.

Unter der niedrigen Decke, die von hölzernen, rußgeschwärzten Rippen getragen wurde, hatten sich acht Männer versammelt. Die Tatsache, dass sie alle in voller Rüstung waren, war überraschend und furchteinflößend zugleich.

Die Art ihrer Helme, die nicht spitz, sondern haubenförmig waren, und ihrer Kettenhemden, die bis zu den Knien reichten, jedoch unter wollenen Mänteln getragen wurden, ließ vermuten, dass es sich nicht um Normannen handelte, was die Situation noch bedrohlicher machte. Schon eher, vermutete Guillaume, handelte es sich um Lothringer oder Provenzalen. Den Kinnschutz ihrer Kettenhauben hatten die fremden Ritter hochgeschlagen, sodass von ihren Gesichtern nur die Augen zu sehen waren, die Guillaume musterten. Auf die Schulterpartien ihrer Umhänge waren Kreuze genäht, die sie als Teilnehmer des Feldzugs auswiesen. Ihre Schwerter trugen sie nicht am Gürtel, sondern hielten sie in den Armbeugen, wohl weniger, um ihre Verteidigungsbereitschaft zu signalisieren, als vielmehr als Symbol von Macht und Würde.

Guillaume fühlte sich gleichermaßen überrumpelt wie eingeschüchtert, aber er war bemüht, sich weder das eine noch das andere anmerken zu lassen. Der Worte seiner Mutter eingedenk, denen zufolge sie ihre ganze Hoffnung auf ihn setzte, kämpfte er die aufkommenden Fluchtgedanken mit aller Macht nieder.

»Guillaume de Rein«, sagte einer der Ritter, der wohl der Wortführer war. Sein Französisch wies einen südlichen Akzent auf und untermauerte Guillaumes Vermutung, was die Herkunft der Vermummten betraf. »Wie wir erfahren haben, begehrt Ihr Aufnahme in diesen erlauchten Kreis.«

»Das ist wahr«, bestätigte Guillaume vorsichtig. Was hätte er auch sonst erwidern sollen?

»Mit welchem Recht tut Ihr dies?«, wollte der Wortführer wissen – und Guillaume beschloss, sich ganz auf das Spiel einzulassen, das diese Leute offenbar mit ihm treiben wollten.

»Mit dem Recht der Geburt«, antwortete er so laut, dass es von der Gewölbedecke widerhallte. »In meinen Adern fließt vornehmes Blut, meine Herkunft ist ohne Tadel.«

»Das trifft auf alle zu, die sich an diesem Ort versammeln. Allein von nobler Herkunft zu sein genügt nicht, um Aufnahme in die Bruderschaft zu finden. Wichtig ist, sich unserer Sache zu verschreiben, mit ganzer Seele und ganzem Herzen.«

Bruderschaft?

Unsere Sache?

Fragen umkreisten Guillaume wie ein Schwarm lästiger Fliegen, ohne dass er eine Antwort fand. Wohin, in aller Welt, hatte seine Mutter ihn geschickt? Wer waren diese Ritter?

»Niemand, der diese Pforte durchschreitet«, fuhr der Vermummte fort, nun ein wenig versöhnlicher als zuvor, »tut dies leichtfertig oder ohne darauf vorbereitet zu sein. Von Eurer Mutter wissen wir, dass Ihr ein Mann von großer Tapferkeit und Tugend seid, Guillaume de Rein, und dass Ihr Euch nichts sehnlicher wünscht, als Eurem Glauben mit Eurer ganzen Macht und all Euren Fähigkeiten zu dienen.«

»Auch das ist wahr«, log Guillaume, diesmal ohne Zögern – während er sich gleichzeitig fragte, ob seine Mutter noch recht bei Verstand war. Sie kannte ihn schließlich gut genug, um zu wissen, dass er den Frömmeleien der Priester nichts abgewinnen konnte und dass er nicht zur Ehre Gottes an diesem Pilgerzug teilnahm, sondern einzig und allein, um den Auftrag zu erfüllen, den der König ihm erteilt hatte.

Schon als Knabe hatte er den Lehren des Epikur ungleich mehr abzugewinnen vermocht als jenen der Stoa, die Augustinus und andere Kirchenväter so wortreich für sich vereinnahmt hatten. Obschon er an der äußersten Grenze der Zivilisation aufgewachsen war, hatte seine Mutter dafür gesorgt, dass er nicht nur im Kriegshandwerk unterrichtet wurde, sondern auch Kenntnisse in lateinischer und griechischer Schrift und Sprache erhielt und in die Geistesgeschichte des Abendlandes eingeführt wurde. Seine Lehrer waren dabei ohne Ausnahme Mönche aus benachbarten Klöstern gewesen, die seinem Vater tributpflichtig waren – doch Guillaume hatte den Patres die Mühe, die sie in seine Ausbildung gesteckt hatten, schlecht gedankt. Seine pragmatische, auf Vorteil bedachte Gesinnung hatte in den kirchlichen Weisungen nur wenig, in der geschichtlichen Überlieferung dafür jedoch umso regere Inspiration gefunden. Irgendwann hatte er seinen Lehrern erklärt, dass sie ihm nichts mehr beibringen könnten, was er nicht schon wisse, und dass er lieber den Pfaden Augustus’ folgen wolle als jenen Augustins. Von diesem Tage an hatte er damit begonnen, sich seinen eigenen Glauben zurechtzuzimmern, in dem die heilige Dreifaltigkeit nur eine untergeordnete Rolle spielte und in dessen Zentrum vor allem einer stand: Guillaume de Rein.

Seine Mutter hatte ihn dabei stets bestärkt – ja, ihm geradezu eingeredet, dass er zu Höherem berufen und zu einem besonderen Schicksal ausersehen sei. Sein Vater hingegen hatte ihn stets wie einen Knecht behandelt, herablassend und ohne auch nur eine Spur von Anerkennung. In diesem Zwiespalt war Guillaume aufgewachsen, er hatte jeden seiner Schritte gleichermaßen beflügelt wie gehemmt. Doch dieser Tage nun schienen sich die Voraussagen seiner Mutter endlich zu erfüllen, und Guillaume war es gleichgültig, mit wem er dafür paktieren oder welche Eide er dafür schwören musste …

Der vermummte Ritter sprach erneut. »Viele begehren, in unsere Reihen aufgenommen zu werden, doch nur wenige sind dazu bereit. Um zu unserer Gemeinschaft zu gehören, bedarf es mehr, als die meisten zu geben bereit sind. Habt Ihr eine genaue Vorstellung von dem, was wir tun? Was unsere geheime Mission ist?«

»Nun, ich habe manches gehört, aber …«

»Die Bruderschaft verlangt Hingebung und Opferbereitschaft. Sie begünstigt und schützt die Ihren, aber ihr vorrangiges Ziel ist die Suche.«

»Wonach?«

»Vor allem nach Erfüllung, die jeder Einzelne von uns zu finden hofft. Jedoch auch nach jenen Stücken, die verlorengingen, als sich frevlerische Heidenhände der heiligen Stätten bemächtigten, und in denen sich mehr als in jedem anderen weltlichen Besitz die Gegenwart Gottes manifestiert: die heiligen Reliquien.«

»Die … die Reliquien«, wiederholte Guillaume. Er konnte es nicht glauben – seine Mutter hatte ihn zu einer Gruppe religiöser Eiferer geschickt!

»Die Mysterien des Glaubens«, drückte der Wortführer der Vermummten es anders aus.