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Für die Reisenden bedeutete dies Hoffnung und Gefahr zugleich. Hoffnung, weil in den dünn besiedelten südlichen Gebieten die Kunde vom Feldzug gegen die Heiden entweder noch nicht angekommen war oder sich nicht mit demselben Nachdruck verbreitet haben mochte wie in den Städten des Nordwestens. Die Bewohner, auf die Chaya und ihr Vater trafen – zumeist Bauern oder Wirtsleute, die einfache Schänken betrieben, in denen es wenig mehr als ein Dach über dem Kopf und ein Stück Brot oder Käse gab –, begegneten den fremden Besuchern zwar mit einiger Neugier, jedoch nicht mit Feindseligkeit. Gefahr hingegen ging von den Räuberbanden aus, die beiderseits der Alpen das Dunkel der Wälder nutzten, um arglosen Wanderern aufzulauern.

Isaac wog die Möglichkeit eines Überfalls und die Gefahr der Entdeckung gegeneinander ab, kam jedoch zu dem Schluss, dass sie besser beraten waren, wenn sie sich einem der Wagenzüge anschlossen, die in unregelmäßigen Abständen die Pässe nach Süden befuhren. Nachdem sie in Innsbruck mehrere Tage ausgeruht und sich auf die kräftezehrende Passage über die Berge vorbereitet hatten, erfuhren sie durch Zufall von einem Zug jüdischer Kaufleute, der nach Mailand wollte. Natürlich schlossen Issac und seine Tochter sich ihren Glaubensbrüdern gerne an – ihre Tarnung jedoch gab Chaya auch unter ihresgleichen nicht auf und behauptete weiterhin, der Diener des alten Kaufmanns zu sein und den Namen Ilan zu tragen.

Auf diese Weise gelangten sie in einem beschwerlichen, glücklicherweise jedoch ereignislosen Marsch über die Berge in das Land südlich der Alpen, das sie mit trockenem Wetter und milder Luft begrüßte, die, so kam es Chaya vor, bereits den Geruch des Meeres auf ihren Schwingen trug.

Rasch ging es nach Süden, zurück in dichter besiedelte Gebiete. Zwar gab es am Wegrand Handelsstationen, doch die meisten waren unbefestigt und boten nur unzureichend Schutz vor Räubern und anderem Gesindel; mit den Karawansereien des Ostens, die jedem Reisenden, der dort einkehrte, Schutz und ein gewisses Maß an Annehmlichkeit versprachen, waren sie nicht zu vergleichen. Über Brixen ging es nach Trient, von dort nach Brescia und schließlich nach Mailand, wo Chaya und ihr Vater sich von dem Kaufmannszug trennten und die letzte Etappe ihrer Reise antraten, die sie nach Genua bringen sollte, wo, wenn es dem Herrn gefiel, ein Schiff für sie bereitstand.

Die Nacht nach ihrer Abreise aus Mailand verbrachten sie in einem Kloster nahe der Stadt Lodi, das Mönche des Benediktinerordens erst vor wenigen Jahren gegründet hatten. Anfangs hatte Isaac gezögert, bei Christen Obdach zu suchen, aber infolge der politisch unsicheren Lage und der kriegerischen Rivalitäten zwischen den oberitalienischen Städten entschloss er sich schließlich doch, an die Klosterpforte zu klopfen. Die Mönche gewährten ihnen Einlass und stellten keine Fragen – entweder war das Misstrauen, das andernorts gegenüber dem Volk Israel herrschte, noch nicht bis hierher gedrungen, oder sie scherten sich einfach nicht darum.

Die Zelle, die man dem Kaufmann und seinem Diener zuwies, mussten Isaac und Chaya sich teilen. Obschon sie nur mit einem kleinen Tisch und einem Schemel möbliert war und die Schlaflager lediglich in der Steinmauer ausgesparte Nischen waren, in denen strohgefüllte Säcke lagen, war es bei Weitem mehr Annehmlichkeit als in vergangenen Nächten. Da es ihnen untersagt war, zusammen mit den Mönchen im Refektorium zu speisen, brachte man ihnen eine Mahlzeit, die aus Oliven, Brot und einem harten, würzigen Käse bestand. Dazu gab es einen Krug Wein. Ob die Nahrungsmittel koscher waren, bezweifelte Isaac zwar ernstlich, aber in Anbetracht der Bedingungen, unter denen sie reisten, hatten sie wohl keine Wahl, als das zu essen, was ihnen zur Verfügung stand. Die Mission hatte Vorrang.

Im flackernden Licht der Kerze, die auf dem Tischchen stand, beobachtete Chaya, wie ihr Vater seinen Mantel ablegte, um sich zur Ruhe zu begeben. Darunter trug er, an einem schräg über die Brust verlaufenden Riemen, den ledernen Köcher, den Daniel Bar Levi ihm am Tag vor der Abreise übergeben hatte. Da Chaya nicht gewusst hatte, dass ihr Vater in jungen Jahren ein feierliches Versprechen gegeben hatte, das ihn auch jetzt noch band, war es für sie eine Überraschung gewesen, den Grund für seine überstürzte Abreise aus Köln zu erfahren. Die Überraschung hatte sie inzwischen überwunden – das Rätselraten um den Inhalt des Behälters jedoch blieb, und es war Chaya schon fast zur Gewohnheit geworden, vor dem Einschlafen darüber nachzusinnen.

»Du legst den Köcher niemals ab, weder bei Tag noch bei Nacht«, stellte sie fest.

»So wie es mir aufgegeben wurde«, entgegnete der alte Isaac schlicht.

»Von wem?«

Isaac wandte sich halb zu ihr um. »Von meinem Vater«, entgegnete er nach kurzem Zögern.

»Von deinem Vater?« Chaya, die bereits in ihrer Schlafnische gelegen hatte, richtete sich verblüfft wieder auf. Es war das erste Mal, dass sie auf eine ihrer Fragen Antwort bekam. Offenbar hatte Isaac entschieden, dass sie nach all den Strapazen, die sie ohne Murren ertragen hatte, zumindest ein wenig mehr erfahren sollte.

Issac nickte. Er nahm die Kerze und trug sie zu seiner Schlafstatt, auf deren Rand er sich seufzend niederließ. »Er war einst ein Träger, genau wie ich.«

»Ein Träger?«

Ihr Vater lächelte schwach. »Im Gegensatz zu den Bewahrern, die das Buch über all die Jahrhunderte verborgen und gehütet haben – so wie der gute Daniel.«

»Ein Buch? Das also befindet sich in diesem Behältnis?«

»So ist es. Nicht mehr und nicht weniger. Ist deiner Neugier damit Genüge getan?«

Chaya nickte zögernd – während sie sich gleichzeitig eingestehen musste, dass sie ein wenig enttäuscht war. Natürlich hatte sie aufgrund der Größe und des offenbar auch geringen Gewichts des Köchers angenommen, dass sich ein Schriftstück darin befand, allerdings eines von größerer Bedeutung. Ein alter Vertrag oder eine kaiserliche Urkunde oder …

»Du wirkst ernüchtert«, sagte Isaac, der sie gut genug kannte, um ihre Züge richtig zu deuten.

»Nun, ich hätte nicht gedacht, dass …«

»Dass was, meine Tochter? Dass ein Buch all dies hier rechtfertigen könnte?« Er machte eine ausladende Handbewegung, die nicht nur die Zelle und das Kloster, sondern die ganze beschwerliche Reise einzuschließen schien.

»In der Art«, gestand Chaya leise.

»Und was, wenn ich dir sagte, dass der Inhalt dieses Buches von solcher Wichtigkeit ist, dass er die Geschicke nicht nur unseres Volkes, sondern der ganzen Welt verändern könnte? Und dass es aus diesem Grund keinesfalls in die falschen Hände gelangen darf?«

»Wurde es dir aus diesem Grund übergeben?«

Isaac nickte. »Auf seinem Sterbebett hat mein Vater deinem Onkel Ezra und mir das Versprechen abgenommen, das Buch an einen anderen Ort zu bringen, falls die Zeit dafür kommen sollte, und es nötigenfalls mit unserem Leben zu schützen.«

»Und diese Zeit ist gekommen?«

»Nach allem, was geschehen ist, kann daran wohl kein Zweifel bestehen«, erwiderte der alte Kaufmann und strich sorgfältig seinen Bart zurecht, der im Zuge der Wanderschaft noch länger, aber auch ein wenig wirr geworden war.

»Aber warum erfahre ich erst jetzt davon, Vater? Warum hast du in all den Jahren niemals auch nur ein Wort darüber verloren?«

»Weil es nicht notwendig war.« Ein wehmütiges Lächeln huschte über die faltigen Gesichtszüge.

»Hat Mutter davon gewusst?«

Isaac schüttelte den Kopf. »Nein. Warum hätte ich es ihr auch sagen sollen? Generationen sind gekommen und gegangen, und viele Träger haben ihr Versprechen geleistet, ohne dass man je von ihnen verlangt hätte, es einzulösen.«

»Warum dann ausgerechnet bei dir, Vater?«.