Der alte Isaac schaute sie lange an. Ihr Haar war inzwischen ein wenig nachgewachsen, sodass ein dünner dunkler Flaum ihre Kopfhaut bedeckte, aber ihm war anzusehen, dass der Anblick ihm noch immer das Herz in der Brust zerriss. »Weil, meine Tochter, wir uns nicht aussuchen können, in welchen Zeiten wir leben oder welche Opfer der Herr von uns verlangt«, gab er leise zur Antwort.
Chaya wandte den Blick. Obwohl sie nun mehr wusste als zuvor, kam sie sich seltsam töricht vor. Töricht, weil sie gefragt hatte. Töricht aber auch, weil sie zu ahnen begann, wie ungeheuer groß die Verantwortung war, die auf den Schultern ihres alten Vaters lastete. Ihr eigenes Verhalten kam ihr plötzlich unreif und selbstsüchtig vor. Beschämt starrte sie auf den kahlen Steinboden der Zelle.
»Verzeih, Vater«, flüsterte sie. »Wenn ich gewusst hätte …«
»Da ist nichts zu verzeihen, Chaya. Du hast getan, was du deinem Wesen nach tun musstest. Obschon ich die Art und Weise, wie du deinen Willen ertrotzt hast, noch immer nicht gutheißen kann.«
»Es tut mir leid.«
Isaac lächelte schwach. »Als ich in jungen Jahren jenes Versprechen gab, das mich heute bindet, was wusste ich da schon? Was für eine Vorstellung hatte ich davon, was es heißt, ein Mann zu sein und Verantwortung zu tragen für ein Amt, für ein Heim, für eine Familie? Ich hatte keine Ahnung von den Wirrungen des Lebens, geschweige denn konnte ich mir ausmalen, dass man jene Pflicht, die ich so bereitwillig übernommen hatte, eines Tages tatsächlich von mir einfordern würde. Oft genug frage ich mich, ob ich ihr überhaupt gewachsen bin.«
»Dann lass mich dir helfen. Auf diese Weise könnte ich wiedergutmachen, was ich …«
»Du willst mir helfen? Wie, meine Tochter?«
»Indem ich das Geheimnis mit dir teile. Indem wir die Verantwortung auf unser beider Schultern verteilen.«
»Deine gute Absicht ehrt dich, Chaya, aber das ist nicht möglich.« Der alte Kaufmann schüttelte das schlohweiße Haupt. »Ich habe ein feierliches Versprechen gegeben, das Geheimnis zu wahren. Nur vom Vater an den Sohn darf es weitergegeben werden.«
»Nicht an den Diener?« Chaya hatte die Frage kaum ausgesprochen, als sie es auch schon bereute. Sie hatte Regeln gebrochen, indem sie sich gegen den Willen ihres Vaters aufgelehnt hatte, und sie tat es noch immer, indem sie ihr Geschlecht verbarg und sich als Mann verkleidete. Aber ihr musste auch klar sein, dass diese Täuschung nicht von Dauer sein und sie sich zwar einzelnen Regeln widersetzen konnte, nicht aber der Tradition des Volkes Israel, die über all die Jahrhunderte den wahren Glauben bewahrt und das Überleben in der Fremde gesichert hatte.
Ihr Vater schien denselben Gedanken zu haben. »Du bist weit gekommen und hast manches erreicht«, beschied er ihr ernst, »aber auch deinem Streben sind Grenzen gesetzt.«
Damit blies er die Kerze aus, sodass die Zelle schlagartig ins Dunkel fiel. Chaya konnte hören, wie ihr Vater den Leuchter neben seiner Schlafstatt auf den Boden stellte und sich dann schlafen legte. »Gute Nacht, meine Tochter«, sagte er noch – schon kurz darauf konnte sie an seinen ruhigen und gleichmäßigen Atemzügen erkennen, dass er eingeschlafen war.
Zu gerne hätte auch Chaya die Augen geschlossen, nicht nur, um nach den Strapazen des Tages Erholung zu finden, sondern auch, um den bohrenden Fragen zu entgehen, die sie beschäftigten. Aber die Worte ihres Vaters ließen ihr keine Ruhe.
Was, wenn ich dir sagte, dass der Inhalt dieser Schrift von solcher Wichtigkeit ist, dass er die Geschicke nicht nur unseres Volkes, sondern der ganzen Welt verändern könnte? Und dass es aus diesem Grund keinesfalls in die falschen Hände gelangen darf?
Noch immer hallten die Worte in ihrem Bewusstsein nach, wie ein Echo, das nicht verklang. Was hatten sie zu bedeuten? Was für ein Geheimnis war es, das die Schriftrolle enthielt? Was konnte von so großer Bedeutung sein, dass ein Mann bereit war, all seine Habe, seine gesellschaftliche Stellung und sogar seine Familie zu opfern, um es zu bewahren? Welche Verantwortung konnte so groß sein, dass selbst ein Mann wie Isaac Ben Salomon, zu dem sie stets aufgeblickt hatte, weil er für sie der Inbegriff von Besonnenheit und Weisheit war, sich ihr kaum gewachsen fühlte?
Das Nachdenken über diese Fragen verwirrte sie nur noch mehr, und je länger sie darüber brütete, desto weiter war sie davon entfernt, Ruhe zu finden. Die Stille in der Kammer wurde zur Last, und aus dem Halbdunkel, das sie umgab, trat die Vergangenheit hervor, in Form von Bildern, Gefühlen und Erinnerungen.
Chaya sah ihre Mutter, das graue Haar um die sanften Züge zurückgekämmt und zu einem Zopf geflochten, so wie sie es innerhalb des Hauses stets getragen hatte; ihr Mund lächelte, aber ihre dunklen Augen blickten in seltsamer Melancholie. Unwillkürlich fragte sich Chaya, was ihre Mutter zu alldem gesagt hätte. Hätte sie Verständnis dafür gehabt, dass Isaac ihr über all die Jahre hinweg verschwiegen hatte, welch weitreichendes Versprechen er gegeben hatte? Hätte sie Chayas Auflehnung gegen die Entscheidung ihres Vaters verstanden oder sie dafür getadelt?
Das Bild wechselte, und sie sah Mordechai Ben Neri, dessen Frau sie um ein Haar geworden wäre, sein durchaus ebenmäßiges, von schwarzem Haar umrahmtes Antlitz, aus dem ein schönes, allerdings auch berechnendes Augenpaar blickte. Trotz aller Strapazen, die sie auf der langen Reise hatte erdulden müssen, trotz aller Gefahren und Unwägbarkeiten, auf die sie sich eingelassen hatte, statt die Gemahlin eines der vermögendsten Männer von ganz Köln zu werden, hatte Chaya ihren Entschluss noch keinen Augenblick bereut.
Umso mehr bedauerte sie dafür, ihren Vater, dessen sorgenvolle Züge als Letztes vor ihrem inneren Auge auftauchten, enttäuscht zu haben. Mehr denn je wünschte sie sich, etwas davon wiedergutmachen zu können, indem sie ihm bei seiner Mission half und ihm zur Seite stand – aber wie sollte sie das, wenn sie noch nicht einmal wusste, worum genau es dabei eigentlich ging?
In diesem Moment, als sie sich ruhelos auf ihrem Lager herumwarf und ihr Blick dem fahlen Streifen Mondlicht folgte, das durch das hohe Fenster der Zelle fiel, sah sie den Behälter, den ihr Vater seinem Versprechen gemäß auch im Schlaf umhängen hatte.
Fast kam es ihr vor, als würde sie das Stück zum ersten Mal erblicken, in jedem Fall jedoch sah sie es plötzlich mit anderen Augen. Nicht mehr als ein Hindernis zwischen ihr und ihrem Vater, sondern als Chance, seine Liebe und Anerkennung wieder ganz zurückzugewinnen – und nebenbei auch die Wahrheit zu erfahren.
Natürlich war es ein Risiko und natürlich war es verboten. Als der Gedanke ihr zum ersten Mal durch den Kopf ging – nur als vager Einfall und noch weit davon entfernt, zum Entschluss zu reifen –, erschrak sie vor sich selbst und schloss die Augen, als könnte sie sich so der Versuchung entziehen.
Doch das Zeichen auf dem ledernen Köcher, der aus zwei ineinander verschlungenen Dreiecken bestehende Stern, übte eine Faszination auf sie aus, die stärker war als alle Vorbehalte. Irgendwann schließlich – wohl weit nach Mitternacht, denn der Mond hatte den größten Teil seines Weges bereits bewältigt – wurde aus dem anfangs so vagen Gedanken ein festes Vorhaben.
Mit pochendem Herzen schlug Chaya die wollene Decke zurück und rollte sich aus der Nische. Sie fröstelte, als ihre nackten Füße den kalten Steinboden berührten. Auf leisen Sohlen schlich sie zum Lager ihres Vaters, der auf der Seite lag, mit dem Gesicht zur Wand, und tief und gleichmäßig atmete. Der Behälter mit dem Buch lag neben ihm auf dem strohgefüllten Leinensack. Lautlos ließ sich Chaya auf die Knie nieder, wollte nach dem Köcher greifen …
»Chaya?«
Sie schreckte zusammen. Ihre Hand, die das Leder fast schon berührt hatte, zuckte zurück.
»J-ja, Vater?«
»Geh wieder ins Bett«, wies der alte Isaac sie mit ruhiger Stimme an. Obwohl er sich nicht bewegt hatte und noch immer mit dem Gesicht zur Wand lag, schien er genau zu wissen, was sie vorgehabt hatte.