Выбрать главу

»Vater, ich …«

»Schlafe«, sagte er nur.

Chaya wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. Erschrocken und eingeschüchtert zugleich ließ sie von ihrem Vorhaben ab und kehrte auf leisen Sohlen zu ihrer Nische zurück, kroch fröstelnd unter die Decke und schlief irgendwann ein.

Ihr Schlaf war unruhig und voll unheilvoller Träume. Als sie am Morgen aufwachte, war sie sich nicht sicher, ob jener merkwürdige Vorfall sich tatsächlich ereignet hatte oder ob sie ihn gleichfalls nur geträumt hatte. Da der alte Isaac kein Wort darüber verlor, beschloss sie, die Sache ruhen zu lassen.

19.

Ligurien

Ende September 1096

Infolge der fortgeschrittenen Jahreszeit war der Marsch über die Alpen beschwerlich gewesen. Anfangs hatte die Milde des Spätsommers das Heer, das sich von Vienne aus nach Südosten gewandt hatte, noch ein gutes Stück begleitet. Aber je höher hinauf die Streiter Christi gelangt waren und je karger die Landschaft um sie herum geworden war, desto kälter war es vor allem in den Nächten geworden. Regengüsse hatten eingesetzt, und zuletzt hatte ein Herbststurm, der eine ganze Nacht lang gewütet und die Gipfel der Berge anderntags weiß gefärbt hatte, den Teilnehmern des Feldzugs zum ersten Mal einen Eindruck davon vermittelt, was es bedeutete, den Launen von Wind und Wetter nahezu schutzlos ausgeliefert zu sein.

Für viele, vor allem für die hohen Herren und Damen, die im Zug reisten, war dies eine neue Erfahrung – für Conn fühlte es sich eher so an, als wäre er in sein altes Leben zurückgekehrt. Zwar war das Wetter in den Bergen rauer als in London, aber er war daran gewohnt, unter freiem Himmel zu nächtigen. Und er machte die Erfahrung, dass ein Stein, auf den man das Haupt bettete, überall auf der Welt gleich hart war und Schweiß und Exkremente überall den gleichen Gestank verbreiteten. Und noch etwas hatte er während der vergangenen Tage feststellen müssen: dass die Wunde an seinem linken Arm immer schlimmer wurde.

Anfangs war es nur ein stechender Schmerz gewesen, den Conn hin und wieder gefühlt hatte. Doch der wässrige Eiter, der irgendwann aus der Wunde ausgetreten war, hatte darauf schließen lassen, dass sie sich entzündet hatte. Entgegen Conns Hoffnung, die Schwellung würde zurückgehen und der Schmerz sich wieder legen, hatte der Schmerz im Lauf des Marsches immer weiter zugenommen. Auch die Kräuter, die einer der Cluniazensermönche ihm hin und wieder auflegte und die Baldric mit teurem Geld bezahlte, hatten daran nichts geändert.

Im Gegenteil.

Der Eiter, der aus der sich immer wieder öffnenden Wunde rann, wurde dickflüssig und gelb, und das Fleisch begann sich dort, wo der Pfeil eingetreten war, dunkel zu verfärben. Conn wusste, dass dies kein gutes Zeichen war, noch mehr beunruhigte ihn jedoch die zunehmende Kraftlosigkeit in seinem Arm, die schließlich dafür sorgte, dass die abendlichen Waffenübungen, in denen Conn es zuletzt zu einigem Geschick gebracht hatte, ausgesetzt werden mussten. Dass Bertrand ihn dafür in der hohen Kunst des Lesens und Schreibens unterwies und er inzwischen bereits in der Lage war, die meisten Buchstaben nicht nur zu entziffern, sondern sie auch mit ungelenker Hand auf den Boden zu schreiben, war dabei nur ein schwacher Trost.

Als die Kreuzfahrer am Tag des Heiligen Michael Genua erreichten, jene mächtige, an einer sichelförmigen Bucht gelegene Hafenstadt, wurden sie dort bereits erwartet. Die Kunde ihres baldigen Eintreffens war ihnen vorausgeeilt, und die Stadtväter hatten sich in mehrfacher Hinsicht auf ihre Ankunft vorbereitet. Denn zwar war man einerseits gewillt, die Streiter Christi freundlich aufzunehmen und mit ihnen nach Möglichkeit Geschäfte zu machen; andererseits wollte man jedoch vermeiden, dass fremde Soldaten in großer Zahl in die Stadt gelangten und dort womöglich Unruhe stifteten oder plünderten, was keine Seltenheit war. Man hatte daher mit den Heerführern Absprachen getroffen und vereinbart, dass die vereinte Streitmacht der Nordfranzosen auf den nordöstlich der Stadt gelegenen Höhenzügen lagern sollte und dass man weiterziehen würde, sobald Vorräte und andere Dinge des täglichen Gebrauchs ergänzt wären. Des Weiteren wurde es nur kleinen Gruppen von Kämpfern gestattet, sich in der Stadt zu bewegen, unter ihnen natürlich die Fürsten des Feldzugs sowie ihre Unterführer und deren Damen. Allen anderen wurde nur in Ausnahmefällen Zugang zur Stadt gewährt. Conn wusste beim besten Willen nicht, wie es Baldric gelungen sein mochte, für sich und zwei seiner Gefährten eine solche Erlaubnis zu erwirken. Irgendwie hatte der Normanne es jedoch bewerkstelligt, und so sah der Tag nach Michaelis ihn, Conn und den geschwätzigen Bertrand am Hafen entlangspazieren, der vor Betriebsamkeit zu bersten schien.

Überall an den Kais und Stegen lagen Schiffe vertäut, um die geschäftiges Treiben herrschte; Arbeiter, die Kisten, Fässer und Stoffballen trugen, wimmelten wie Ameisen umher, Viehherden und Fuhrwerke drängten sich. Und in all dem Getümmel waren vornehm gekleidete Männer auszumachen, die das Durcheinander mit kritischem Blick beaufsichtigten – Kaufleute und Schiffskapitäne aus aller Herren Länder, ihre Hautfarben und Kleider in einer Vielfalt, wie Conn sie nie zuvor erblickt hatte. Die Schiffe, die an den Kais entladen oder für eine neue Fahrt gerüstet wurden, waren große Handelssegler, die ganz anders aussahen als jener Knorr, der Conn und seine Gefährten von der englischen Küste zum Festland getragen hatte; die meisten der hier vor Anker liegenden Schiffe waren breit und vergleichsweise kurz und sahen in Conns Augen wie riesige Bottiche aus, über denen je nach Größe eines oder auch zwei Dreieckssegel flatterten. Aber es gab auch schwere Kriegsgaleeren, die größer waren als alles, was Conn je zuvor auf dem Wasser hatte schwimmen sehen. Wie Bertrand mit der üblichen Beflissenheit mitteilte, wurden sie Dromone genannt und waren in der Bauweise den Kampfschiffen der Byzantiner nachempfunden.

Anders als sein redseliger Gefolgsmann schien Baldric weniger an den nautischen Errungenschaften interessiert zu sein als vielmehr an der Weite des Meeres und der Schönheit der Landschaft, die sich wie eine Burgmauer rings um das Hafenbecken erhob und an der die steinernen Häuser der Stadt wie wilder Wein emporzuwachsen schienen.

»Sieh dir das an, junger Angelsachse«, sagte er zu Conn, als sie das Ende der Kaimauer erreicht hatten, wo das Gewirr weniger dicht und das Geschrei weniger laut war. »Gebietet dieser Anblick nicht Ehrfurcht vor der Schöpfung des Herrn?«

Conn blieb eine Antwort schuldig. Er sah das mare mediterraneum zum ersten Mal in seinem Leben, aber mehr noch als der bestaunenswerte Anblick hielt ihn sein linker Arm in Atem. Die Schwellung hatte weiter zugenommen, sodass er ihn kaum noch bewegen konnte. Schlaff und kraftlos hing der Arm in der Schlinge, die Conn um den Hals trug. Vor allem nachts war die Pein kaum zu ertragen, sodass Conn zuletzt kaum ein Auge zugetan hatte. Entsprechend bleich war er um die Nase und entsprechend dunkel die Ränder um seine Augen.

»Mir will scheinen, Herr Baldric, dass unser junger Freund keinen rechten Sinn für die Schöpfung hat«, merkte Betrand feixend an. »Vielleicht sollten wir lieber eine Taverne aufsuchen und ihn und uns mit einem guten Krug Wein bekannt machen.«

»Kein Wein für mich«, wehrte Baldric ab. »Den weltlichen Dingen habe ich abgeschworen, wie du weißt. Ich möchte den heiligen Boden reinen Gewissens betreten.«

»Zu schade.« Bertrand schnitt eine Grimasse. »Ich habe gehört, nicht nur der hiesige Wein, sondern auch die Frauenzimmer sollen von erstklassiger Qualität sein.«

»Dann tu, was zu lassen dir offenbar nicht gelingt«, seufzte Baldric mit tadelndem Blick. »Wir treffen uns im Lager.«

»Sehr wohl.« Bertrand verbeugte sich übermütig, dass seine wirren Haare nur so flogen. »Und was ist mit unserem Angelsachsen? Hat er den Freuden von Weib und Gesang ebenfalls entsagt?«