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Er hatte Baldric nie erzählt, was damals in London geschehen war, und gedachte es auch jetzt nicht zu tun. Nicht, weil er dem Normannen noch immer nicht über den Weg getraut hätte, sondern weil er sich insgeheim davor fürchtete, jene dunkle Kammer tief in seinem Inneren zu betreten, die er sorgsam verschlossen hatte.

»Jemanden?«

»Eine junge Frau.« Die Antwort reichte aus, um einen schmerzhaften Stich hervorzurufen. »Sie …«

»Ja?«, hakte Baldric nach, als Conn zögerte. Der Normanne wandte den Blick, das eine Auge schaute ihn fragend an.

»Sie sagte, dass die Welt außerhalb der Mauern Londons voller Wunder sei«, erwiderte Conn leise.

»Dann war sie entweder weitgereist oder trotz ihrer jungen Jahre sehr weise«, folgerte Baldric lächelnd.

»Das war sie«, bestätigte Conn. Für einen Moment versuchte er sich vorzustellen, wie es gewesen wäre, Nia in diesem Augenblick an seiner Seite zu haben, ihr all die Wunder zu zeigen, von denen sie stets gesprochen hatte. Traurigkeit befiel ihn, doch anders als noch vor einigen Wochen stürzte ihn die Erinnerung an Nia nicht mehr in tiefste Verzweiflung. Er erinnerte sich an das Versprechen, das er ihr gegeben hatte, und der Gedanke, dass er in diesem Augenblick ein wenig von jener Freiheit verspürte, die zu suchen sie ihm aufgegeben hatte, tröstete ihn.

Er hatte London verlassen.

Er bereiste ferne Länder, er sah Dinge, die er noch vor kurzer Zeit für unmöglich gehalten hätte. Und erstmals kam ihm der Gedanke, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, dass auf die Düsternis der Trauer irgendwann wieder helles Licht folgen könnte.

Conns Arm war geheilt, er fühlte sich gesund und war am Leben, und zum ersten Mal nach langer Zeit schöpfte er leise Hoffnung.

Von Rom aus folgte das Heer dem Verlauf der Via Appia, einer jener Hauptstraßen, die einst die Zentren des Römischen Reiches miteinander verbunden hatten. Teile des steinernen Bandes, das sich von Rom bis in die Hafenstadt Brindisium erstreckt hatte, waren über die Jahrhunderte immer wieder ausgebessert und auf diese Weise erhalten worden. Sie erleichterten das Vorankommen des Heeres und seines gewaltigen Trosses, der im Zuge des Marsches durch Italien noch weiter angewachsen war, ganz erheblich; andere Streckenabschnitte hingegen waren dem Verfall überlassen worden, sodass die Pflastersteine von Gras überwuchert wurden und der einstige Straßenverlauf nur noch zu erahnen war.

Als Anfang November heftiger Regen einsetzte und das Vorankommen zusätzlich erschwerte, rächten sich die Tage der Rast, die man in Lucca und Rom eingelegt hatte. Erst gegen Ende des Monats erreichte man Bari, wo Hunderte von Frachtschiffen bereitstanden, die das Kreuzfahrerheer nach Griechenland übersetzen sollten. Noch nie zuvor, nicht einmal in Genua, hatte Conn eine solche Anzahl von Schiffen erblickt, die in der grauen, von Wind und Regen trüben See um ihre Ankerketten dümpelten. Doch wie sich zeigte, war die Jahreszeit bereits zu weit vorangeschritten; die Mehrheit der Kapitäne, unter deren Befehl die Frachter standen, verweigerte die Überfahrt unter Verweis auf die gefährlichen Stürme, die das Meer im Winter aufzuwühlen pflegten und es zum feuchten Grab für all jene machten, die sich ihm leichtfertig auslieferten.

Über mehrere Tage hinweg blieb es ungewiss, ob die Heeresführer sich auf das Wagnis einlassen und die Seefahrer womöglich zwingen würden, ihre Arbeit zu tun. Schließlich besannen sie sich jedoch, und sowohl Herzog Robert als auch Stephen de Blois rückten mit ihren Einheiten nach Kalabrien ab, wo ihnen Marc von Tarent Zuflucht gewährte, der normannische Herrscher Süditaliens, der seinen angeblich sagenhaften Körperkräften entsprechend Bohemund genannt wurde, nach dem mythischen Riesen. Wie es hieß, sei Bohemund durch das Beispiel der Kreuzfahrer ebenfalls von religiösem Eifer erfasst worden und plane, im Frühjahr selbst an der Spitze einer Streitmacht überzusetzen. Lediglich Graf Robert von Flandern wollte nicht länger warten; indem er einigen Kapitänen hohe Belohnungen versprach, gelang es ihm, eine kleine Flotte zusammenzustellen, die ihn und seine Leute noch vor Jahresende nach Griechenland bringen sollte – und allen Gefahren zum Trotz langten die Schiffe wohlbehalten in Dyrrachium an.

Für die übrigen Kreuzfahrer setzte eine Zeit des Wartens ein. Inmitten der bewaldeten, von einzelnen Burgen gekrönten Hügel bezog man die Winterquartiere, die für die meisten Angehörigen des Heeres aus wenig mehr als einer Plane bestanden, die man über dem Boden spannte und mit der man Regen und Wind fernzuhalten suchte. Während die Edlen auf Burgen und Gehöften Unterschlupf fanden, deren Herren ihnen bereitwillig das Gastrecht gewährten, waren die einfachen Soldaten darauf angewiesen, sich selbst zu versorgen. Und so dauerte es nicht lange, bis sich die anfängliche Erleichterung über das vorläufige Ende des langen Marsches in Enttäuschung verwandelte. Zwar verstanden es einzelne Anführer, ihre Leute zu disziplinieren, indem sie regelmäßige Waffenübungen ansetzten. Aber die im Dezember noch weiter zunehmenden Regenfälle, die den Boden in Sumpfland verwandelten und Feuchtigkeit bis in den letzten Winkel dringen ließen, sorgten dafür, dass das Winterlager zu einer zermürbenden Prüfung wurde, der längst nicht alle Kreuzfahrer standhielten …

»Habt ihr gehört?«

Bertrands triefnasser Lockenkopf erschien im Eingang des behelfsmäßigen Zeltes, das Baldric für seine Leute und sich errichtet hatte. Draußen war es stockdunkel; weitere Regenwolken waren bei Einbruch der Nacht herangezogen und hatten Sterne und Mond verfinstert, sodass im Inneren des Zeltes schummriges, nur von schwachem Feuerschein durchbrochenes Halbdunkel herrschte.

Die Behausung selbst bestand aus einer großen Plane, die von Stangen gestützt wurde und an drei Seiten bis zum Boden heruntergezogen war, während die Rückseite aus einem zweckentfremdeten Heuwagen bestand, den die englischen Kreuzfahrer kurzerhand für sich reklamiert hatten. Es war keine sehr komfortable Bleibe, aber weitgehend trocken und geräumiger als die meisten anderen Unterkünfte. Die Mitte nahm eine Feuerstelle ein, über der Conn aus Wurzeln und etwas Getreide eine halbwegs sättigende Abendmahlzeit zuzubereiten versuchte. Remy kauerte am Boden und polierte sein Schwert; Baldric saß gegen den Heuwagen gelehnt, den wollenen Umhang um die Schultern gezogen, und schien wie so oft in tiefe Gedanken versunken. Von allen Kreuzfahrern, so kam es Conn vor, begegnete der einäugige Normanne den widrigen Bedingungen mit dem größten Gleichmut.

»Was sollen wir gehört haben?«, wollte Conn wissen, während er in der dünnen Suppe rührte und darauf wartete, dass der Hafer quoll.

»Die Lothringer stehen kurz vor Konstantinopel«, verkündete Bertrand die Neuigkeit, die er vermutlich in einem der Versorgungszelte aufgeschnappt hatte, die sich auf das Lager verteilten. Dort gab es Würfelspiel, Wein und all die anderen Dinge, mit denen sich der feiste Normanne die Zeit zu vertreiben pflegte.

»Verdammt«, sagte Remy, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Seine Brauen allerdings zogen sich finster zusammen.

»Verdammt?«, fragte Conn und schaute fragend zwischen den beiden hin und her. »Wieso? Was bedeutet das?«

»Das bedeutet, mein wie immer unbedarfter Freund, dass wir womöglich zu spät kommen werden, um Palästina zu befreien. Denn während wir hier sitzen und zur Untätigkeit verdammt sind, haben Herzog Godefroy und die Seinen den weiten Weg bereits zurückgelegt und befinden sich an der Pforte des Heiligen Landes.«

Conn biss sich auf die Lippen. Er hatte von den anderen Kreuzfahrerheeren gehört, die sich ebenfalls auf den Weg gemacht hatten, unter ihnen auch jenes von Godefroy de Bouillon, dem Herzog von Niederlothringen. Anders als die normannischen Fürsten war Godefroy jedoch bereits im Hochsommer aufgebrochen und hatte sich auf diese Weise wohl einen entscheidenden Vorsprung verschafft.

»Nun wird es nicht mehr lange dauern, bis Bouillon und die Seinen vor den Toren von Jerusalem stehen, sodass wir nur noch den Dung ihrer Pferde aufklauben können, statt uns mit den Schätzen des Orients zu beladen.« Bertrands Enttäuschung war ihm deutlich anzusehen.