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Es war der Weihnachtsabend des Jahres 1096.

21.

Damaskus

Wenige Tage später

Bahram al-Armeni war müde.

Stundenlang hatte er in den dunklen Himmel gestarrt, der sich über Damaskus wölbte, bis ihm die Sterne nur noch wie Nadelstiche erschienen waren, die jemand willkürlich in den Mantel der Nacht gebohrt hatte, ohne dabei einem bestimmten Muster zu folgen.

Vom Mondschein beleuchtet, bot die Stadt ein friedliches Bild: die schützende Mauer, die sie in weitem Rund umgab; das glitzernde Band des Flusses, der sie von Osten her durchfloss; die hohen Kuppeln der Umayyaden-Moschee sowie der angrenzenden Bibliothek und der Universität; dazwischen die spitzen Türme der Minarette. Obschon Bahram ursprünglich aus Tal Bashir an der Südgrenze des fernen Armeniens stammte, war Damaskus für ihn zur zweiten Heimat geworden, und obwohl er nicht muslimischen, sondern wie viele Armenier christlichen Glaubens war, hatte er es unter den seldschukischen Herren des Landes zu einigem Ansehen gebracht. Das stand mit den militärischen Diensten in Verbindung, die er zunächst unter Tutush, dem Bruder des Sultans, und später unter seinem Sohn Duqaq geleistet hatte, dem mächtigen Herrscher von Damaskus. In zahllosen Schlachten hatte Bahram sich hervorgetan und sich einen herausragenden Status unter Duqaqs Kämpfern erstritten, der ihm als hohem Offizier Reichtum und Ansehen eingetragen hatte – und die Freiheit, sich in Friedenszeiten anderen Belangen widmen zu können.

»Nun, mein Freund?«, erkundigte er sich bei dem Mann, der neben ihm auf einem Kissen auf dem Boden kauerte und in das Ende eines zweieinhalb Ellen messenden Rohres starrte, das aus Messing gefertigt und zum Himmel gerichtet war. »Könnt Ihr etwas entdecken?«

Jamal Ibn Khallik antwortete nicht sofort. Noch einige Augenblicke lang starrte er durch das Fernrohr, so als fürchte er, etwas zu übersehen oder gar zu verpassen. Dann erst wandte er den Blick seiner wässrigen Augen auf Bahram, den er jedoch nicht gleich wahrzunehmen schien. Im Gegenteil hatte es den Anschein, als bräuchte der alte Sterndeuter eine Weile, um aus den Geheimnissen des Kosmos in das Hier und Jetzt zurückzukehren, das sich hoch über den steinernen Gassen von Damaskus befand, im Dachgarten des prächtigen Hauses, das Bahram als Zeichen von Duqaqs Gunst bewohnte.

»Ich wünschte, ich könnte Eure Frage bejahen, Herr, denn dann hätte Eure Ungewissheit ein Ende. Aber ich kann es nicht. Das Firmament ist leer in diesen Tagen. Leer an Zeichen. Arm an Wahrheit.«

»Aber ich habe die Zeichen gedeutet«, wandte Bahram ein. »Sie standen günstig …«

»Es hat Zeichen gegeben«, stimmte der Sterndeuter zu, während sich seine dunklen, faltigen Züge, die etwas von knorrigem Leder hatten, zu einem milden Lächeln zerknitterten, »und es spricht für Euer Wissen und Eure Gelehrsamkeit, dass Ihr sie erkannt habt, während viele andere Astrologen sie übersahen – doch könnt Ihr niemals sicher sein, was sie bedeuten. Alle Zusammenhänge des Lebens und der Natur des Kosmos sind dort oben verborgen, dessen seid gewiss, Herr. Jedoch vermögen wir den Zeitpunkt, da sie sich uns enthüllen, weder vorherzusagen noch zu bestimmen.«

Bahram nickte nur widerwillig.

Der Kunst der Sterndeutung gehörte seine ganze Leidenschaft. Hätte sein Schicksal, das ihn vom fernen Tal Bashir nach Syrien geführt hatte, nicht den Weg des Krieges eingeschlagen, so hätte sich Bahram vermutlich der Astrologie gewidmet, die ihm ein weitaus lohnenderes Betätigungsfeld zu sein schien. Es war seine tiefe Überzeugung, dass sich in der wunderbaren Gleichmäßigkeit und Ordnung der Sterne die göttliche Weisheit und Schöpferkraft spiegelte und dass man, wenn man es recht verstand, beim Betrachten der Gestirne einen kurzen Blick auf den Abglanz des Göttlichen erhaschen konnte, aus dem man wiederum Rückschlüsse auf das Wirken und Streben der Sterblichen ziehen konnte, im Guten wie im Schlechten.

»Ich weiß, wie unbefriedigend dies für Euch sein muss, Herr«, entgegnete Ibn Khallik, in dessen Familie die Kunst der Astrologie seit vielen Generationen gepflegt wurde, bis zurück in die Tage des alten Babylon. »Aber wenn die Sterne ihre Geheimnisse nicht freiwillig enthüllen, vermögen wir sie ihnen nicht zu entreißen.«

»Dessen bin ich mir bewusst, Meister Jamal«, antwortete Bahram. Manches von dem, was er über die Gestirne wusste, über ihre Konstellationen und deren tiefere Bedeutung, hatte er aus Büchern gelernt. Das meiste jedoch hatte Ibn Khallik ihm beigebracht, der immer dann, wenn die Zeiten es erlaubten, zu seinem väterlichen Freund und Lehrer wurde. »Aber könnte es nicht sein, dass wir etwas übersehen haben? Einen verborgenen Hinweis, und wäre er noch so gering?«

»Was macht Euch so sicher, Bahram? In all den Jahren, die ich Euch nun kenne, habe ich Euch selten so unruhig erlebt, und ich nehme an, dass dies nicht so sehr mit den Veränderungen der Gestirne zusammenhängt als vielmehr mit etwas, das Ihr im Palast des Fürsten erfahren haben mögt und worüber zu sprechen Euch untersagt wurde.«

Bahram lachte, um seine Überraschung zu verbergen. Schon in der Vergangenheit hatte er feststellen müssen, dass es schwierig war, etwas vor Meister Jamal zu verbergen. Mitunter hatte es den Anschein, als besäße der alte Mann die Gabe der Prophetie – oder vielleicht weilte er auch nur lange genug auf Erden, um das Wesen der Menschen genau zu kennen. »Ihr … habt recht«, gab er widerstrebend zu.

»In diesem Fall solltet Ihr Euch fragen, ob es tatsächlich Erkenntnis ist, nach der Ihr dürstet, oder ob Ihr in Wahrheit längst für Euch entschieden habt, was jene Dinge zu bedeuten haben, und nun vom Himmel die Bestätigung dafür wollt.«

Es waren Aussagen wie diese, für die Bahram den alten Sterndeuter so sehr schätzte – offen und direkt, ohne zu verletzen, dabei aber von bestechender Weisheit. Es stimmte, Bahram hatte im Palast von Entwicklungen erfahren, die in der Tat beunruhigend waren, und er trachtete danach herauszufinden, wozu sie führen mochten.

Der Hilferuf, den der byzantinische Kaiser Alexios im Frühjahr an die abendländischen Christen gesandt hatte, war nicht unerwidert geblieben. Schon im Herbst hatten griechische Kaufleute berichtet, dass sich fern im Westen eine gewaltige Streitmacht sammle, deren erklärtes Ziel es sei, Byzanz im Kampf gegen die seldschukische Übermacht beizustehen und die heiligen Stätten der Christenheit aus der Hand der Muslime zu befreien. Zwar hatten weder der Sultan noch seine Emire und Atabege diesen abenteuerlichen Berichten anfangs Bedeutung beigemessen, doch die jüngsten Geschehnisse zeigten, dass sie in jeder Hinsicht wahr gewesen waren.

Gleich mehrere Heere hatten sich auf den Weg nach Osten begeben, sowohl zu Lande als auch zu Wasser, und zumindest eines von ihnen hatte die Stadt Konstantins bereits erreicht und war dabei, sich mit der Armee des Kaisers zu vereinen. Was genau dies zu bedeuten hatte, wohin die Kreuzfahrer, wie sie sich selbst nannten, ihre Schritte als Nächstes lenken würden und was sie im Schilde führten, war derzeit noch ungewiss, aber Bahram fühlte, dass Wind gesät worden war – und dass ein Sturm folgen würde.

»Ihr habt recht, Meister Jamal«, gab er zu. »Vielleicht trachte ich von den Gestirnen tatsächlich nur etwas zu erfahren, was ich in Wahrheit schon längst weiß. Möglicherweise ist es auch Hoffnung, die ich suche. Trost.«

»Ihr?« Die von Überanstrengung geröteten Augen Ibn Khalliks starrten ihn an. »Der Ihr ein Mann des Krieges seid?«

»Gerade deswegen«, erwiderte Bahram düster. Seine geheime Hoffnung war es gewesen, nach all den Jahren des Kampfes und der unzähligen Schlachten, die er in Fürst Duqaqs Auftrag geschlagen hatte, endlich ein wenig Ruhe zu finden und sich der Wissenschaft widmen zu können, die ihm so viel bedeutete. Doch die Zeichen der Zeit verhießen etwas anderes.