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Der alte Isaac unterbrach sich, um sich mit einer Geste, die beiläufig wirken sollte, die Tränen aus den Augen zu wischen. »Mir war immer klar gewesen, dass jener Tag, an dem ich das Siegel Salomons wiedersehen sollte, gleichzeitig auch der Tag sein würde, an dem ich mein Versprechen würde einlösen müssen.«

»Hast du damit gerechnet?«, fragte Chaya.

»Nein«, bekannte ihr Vater kopfschüttelnd. »Ebenso wenig, wie ich mit dem Tod deiner Mutter gerechnet habe. Oder damit, dass das Volk Israel nach all den Jahrhunderten des Friedens erneut angefeindet werden könnte und um seine Existenz fürchten müsste. Warum nur neigen wir Menschen dazu, das, was wir haben, als sicher und gegeben zu erachten? Wo ist unsere Demut vor dem Herrn? Wo unsere Dankbarkeit?«

Chaya wusste keine Antwort auf seine Fragen. Es stimmte, auch sie hatte noch vor nicht allzu langer Zeit viele Dinge als selbstverständlich erachtet, die ihr nun außergewöhnlich, ja unerreichbar schienen. Vor allem aber konnte sie seine Trauer fühlen und die Einsamkeit, die ihn quälte, und sie verspürte das Bedürfnis, ihm zu helfen.

»Willst du mir nicht doch sagen, was in dem Buch geschrieben steht, Vater?«, erkundigte sie sich leise. »Vielleicht würde es dich erleichtern, die Last des Wissens zu teilen.«

»Vielleicht«, gestand er und legte ihr in einer liebevollen Geste die Hände auf die Schultern. »Aber dich würde es gleichzeitig belasten, mein Kind, und du hast schon genug zu tragen. Wenn ich dir vorenthalte, was in jener Schrift geschrieben steht, dann nicht, weil ich dir nicht traue, Chaya. Sondern um dich zu schützen.«

Er wartete ihre Erwiderung nicht ab, sondern wandte sich ab und wollte den Dachgarten verlassen.

»Wohin gehst du?«, fragte sie.

»Zum Hafen. Ich werde versuchen, eine Passage nach Alexandretta zu bekommen.«

»Aber der Sturm ist noch nicht vorüber!«

»Und wenn schon.« Er zuckte mit den Schultern. »Lieber vertraue ich mich den Wellen an, als darauf zu warten, dass …« Er verstummte plötzlich, und seine Gesichtszüge verzerrten sich. Nach vorn gebeugt, stützte er sich auf das hölzerne Geländer, das die schmale Steintreppe säumte.

»Vater!« Chaya eilte zu ihm. »Was hast du?«

»Es geht schon.« Seine Miene entkrampfte sich, und er richtete sich wieder zu seiner vollen Größe auf. »Nur ein Anfall von Schwäche, nichts weiter. Ich werde langsam alt, das ist alles.«

»Du musst dich ausruhen, hörst du?«

»Das werde ich, meine Tochter«, versprach er, und für einen kurzen Moment war da wieder jenes schalkhafte Lächeln, das sie einst so an ihm geliebt hatte. »Wenn die Mission beendet ist.«

Damit wandte er sich endgültig um und stieg die Treppe hinab – und Chaya hatte das Gefühl, einem Greis nachzublicken.

2.

Pelekanon, Kleinasien

Mitte Juni 1097

Conn war müde.

Ausgezehrt vom langen Marsch, erschöpft von den Entbehrungen.

Als der burgundische Nachschubtross, dem er sich angeschlossen hatte, die ersten Ausläufer des Lagers erreichte, das die Kreuzfahrer bei Pelekanon errichtet hatten, am Ufer einer Meeresbucht, die weit in das felsige Hügelland ragte, verspürte Conn bei Weitem nicht die Erleichterung, die er sich während der langen Reise ausgemalt hatte. Er sah die Zelte, die die Anhöhe übersäten, die flackernden Feuer und die unzähligen Banner, die im kühlen Abendwind wehten, viele mit dem Zeichen des Erlösers versehen. Aber weder erfüllte ihn der Anblick mit Zufriedenheit, noch empfand er Stolz darüber, das Ziel seiner langen Irrfahrt endlich erreicht zu haben. Zu groß war die Müdigkeit, zu brennend der Durst, zu heiß der Schmerz an seinen Fußsohlen.

Von dem Umhang, den Baldric ihm gekauft hatte, war kaum noch etwas übrig. Das wenige, das von dem wollenen Stoff geblieben war, flatterte um seine Schultern, zerfetzt und verschmutzt, das Kreuz darauf war kaum noch zu erkennen. Seiner restlichen Kleidung war es kaum besser ergangen, sodass er einen ziemlich trostlosen Anblick bot, als er das Lager betrat. Die Posten waren lothringische Kämpfer aus dem Kontingent des Herzogs von Bouillon, die schon im vergangenen Jahr am Bosporus eingetroffen waren. Sie ließen den Tross passieren und wiesen ihm den Weg zu den Versorgungszelten, die der wohlhabende Graf von Toulouse für seine Vasallen unterhielt.

Da Conn den Zug über zehn Tage begleitet hatte, wurde auch ihm eine Ration Essen zugeteilt, das aus einem dickflüssigen Getreidebrei bestand sowie aus getrockneten Früchten, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Sie waren von länglicher Form und brauner Farbe, und obwohl Conn nicht wusste, wie sie schmeckten, griff er zur Sicherheit noch einmal in die Schüssel und lud sich eine weitere Handvoll davon auf den hölzernen Teller.

»He, du!«, fuhr der Koch ihn daraufhin an, ein feister Kerl, der selbst sein liebster Gast zu sein schien. »Lass den anderen gefälligst auch noch etwas übrig, hörst du?«

Conn zog den Kopf zwischen die Schultern und verdrückte sich. In sicherem Abstand von den Küchenwagen, von denen ein ranzig-bitterer Geruch durch das Lager schlich, ließ er sich an einem Feuer nieder und begann zu essen. Gierig schlang er den Brei in sich hinein, um den bohrenden Hunger zu stillen. Sofort merkte er, wie zumindest ein kleiner Teil seiner Kräfte zurückkehrte.

Erst jetzt fiel ihm auf, wie ruhig es im Lager war, und dies nicht nur der späten Stunde wegen. Nur wenige Kämpfer saßen an den Feuern, es gab nicht annähernd die Betriebsamkeit, die im Winterlager im fernen Kalabrien geherrscht hatte. An vielen Stellen, wo zuvor Zelte oder Wagen gestanden hatten, klafften Lücken, und das plattgetretene Gras und die Furchen, die sich im Boden abzeichneten, ließen vermuten, dass dies noch nicht lange so war.

Conn wusste nicht, was er davon zu halten hatte, im Grunde war es ihm auch gleichgültig. Unzählige Male hatte er sich in den vergangenen Wochen gefragt, ob er noch weitergehen sollte, ob es überhaupt noch einen Sinn hatte, das ferne Ziel der Reise erreichen zu wollen. Hunger und brennender Durst hatten das Verlangen nach Rache in den Hintergrund treten lassen, Guil­laume de Rein war ob des täglichen Überlebenskampfes zu einem fernen Schatten verblasst. Wenn Conn weitermarschiert war, dann nur, weil er nicht irgendwo im Niemandsland ein elendes Ende hatte finden wollen … Und weil ihm in besonders dunklen und verzweifelten Stunden so gewesen war, als ob eine innere Stimme ihn antrieb. Die Stimme hieß ihn, stetig einen Fuß vor den anderen zu setzen und immer weiter zu gehen, weiter und weiter … so als ob er noch eine Bestimmung zu erfüllen hätte, ein höheres Ziel …

Nachdem er den Brei ausgelöffelt hatte, beschloss er, sein Glück mit einer der Trockenfrüchte zu versuchen. Zaghaft schnupperte er daran, dann schob er sie sich in den Mund. Der Biss war fest, das Fruchtfleisch mehlig und, zu Conns Überraschung, von angenehmer Süße. Im nächsten Moment jedoch biss er auf etwas Hartes, das ihn noch dazu in die Zunge piekte. Mit einem Aufschrei spuckte er die Frucht wieder aus – zur Erheiterung der beiden anderen Kämpfer, die am Feuer saßen.

»Nanu, mein Freund?«, fragte der eine der beiden lachend, ein blonder Lockenkopf, der den ledernen Rock eines Bogenschützen trug. »Schmeckt dir die Dattel nicht?«

»Dattel?« Conn, der sich die schmerzende Mundpartie rieb, hob erstaunt die Brauen.

»Die Frucht, die du gerade gegessen hast«, erklärte der Gelockte, auf die wenig appetitlichen Reste deutend, die vor Conn auf dem Boden lagen. »Oder die du vielmehr essen wolltest.« Er entblößte sein gelbes Gebiss zu einem Grinsen. »Schmecken eigentlich nicht schlecht. Nur auf den Kern sollte man nicht beißen.«