Der hölzerne Block, der am Ende eines losgerissenen Seils befestigt war, traf ihn an der Schläfe, und das mit derartiger Wucht, dass Conn für einen Moment die Besinnung verlor. Der heftige Schmerz ließ sein Bewusstsein flackern wie eine Kerzenflamme, benommen wankte er zurück – und stieß gegen die nur hüfthohe Back. Noch ehe er recht zu sich kam, kippte sein Oberkörper bereits nach hinten. Er begriff, dass er sich festhalten musste, wollte er nicht kopfüber in die schäumenden Fluten stürzen, aber seine Hände griffen ins Leere – und er fiel.
Ein entsetzter Schrei entrang sich seiner Kehle, der jäh verstummte, als die Wogen ihn verschlangen. Conn tauchte in die kalte Dunkelheit, Erinnerung und Gegenwart vermischten sich für ihn. Hatte er dies nicht schon einmal erlebt? Oder erlebte er es gar noch immer? War nichts von dem, was er in den vergangenen Wochen gesehen und erlebt hatte, wirklich gewesen? Hatte sich alles nur in seiner Vorstellung abgespielt, in jenem schrecklichen Moment, da er auf der Flucht vor den königlichen Wachen in die ungewisse Tiefe gesprungen war? Lag Nias Tod in Wahrheit nur wenige Augenblicke zurück?
Er sah ihr Gesicht vor sich, nicht blutig und zerschunden, sondern lebendig und schön. Ihr schwarzes Haar. Ihre zarte, leicht gebräunte Haut, ihre dunkelbraunen Augen. Erst als Conn seine Lippen auf die ihren presste, erkannte er, dass es nicht Nia war, die er küsste, sondern eine andere junge Frau.
Chaya!
Wie ein Leuchtfeuer glomm ihr Name in der Dunkelheit auf und holte seinen verwirrten Geist ins Hier und Jetzt zurück. Erst jetzt spürte Conn seine brennenden Lungen und den nadelnden Schmerz des kalten Wassers. Er riss die Augen auf und konnte ringsum nichts als teerige Schwärze erkennen. Aber anders als damals, da er sich willenlos den Fluten ergab, wollte er nun leben!
Alle Kräfte einsetzend, die ihm noch verblieben waren, begann er wie wild mit den Armen zu rudern. Einen quälenden Moment lang glaubte er, dass seine Lungen ihn im Stich lassen und er es nicht schaffen würde, aber unvermittelt durchstieß er die Oberfläche und bekam wieder Luft.
Hastig sog er sie ein, bekam dabei einen Schwall Gischt ab, sodass er hustete und röchelte, während seine Beine gleichzeitig Wasser traten, damit er nicht unterging. Salz brannte in seinen Augen, und er konnte zunächst nichts sehen. Als sich seine Sicht wieder klärte, sah er sich rings von tosenden Wellenbergen umgeben, die sich zu riesigen Gebirgen häuften, um schon im nächten Moment wieder dunkle Abgründe zu öffnen, in die Conn gerissen wurde. Ein Sog erfasste ihn und zog ihn hinab. Es kostete ihn unbändige Kraft und Mühe, den Kopf über Wasser zu halten und dafür zu sorgen, dass das schwarze, ringsum brodelnde und schäumende Inferno ihn nicht wieder verschlang.
Erneut ging es hinauf in ungeahnte Höhen. Im einen Moment hatte es den Anschein, als wollte die See Conn geradewegs in den nächtlichen Regenhimmel ausspucken. Schon einen Herzschlag später jedoch stürzte er wieder in die Tiefe, fand sich von schwarzen Mauern umgeben, deren Zinnen aus weißer Gischt bestanden – und jenseits derer sich das Schiff befinden musste. Doch Conn hielt vergeblich nach dem salandrium Ausschau. Zu hoch waren die Wälle, die die Fluten aufschütteten, zu tief die Gräben, in die er fiel.
Die Orientierung hatte er längst verloren. Mit Armen und Beinen rudernd, war er verzweifelt damit beschäftigt, sich über Wasser zu halten. Das Schwimmen hatte er leidlich in einem kleinen Weiher gelernt, der so flach gewesen war, dass man darin unmöglich ertrinken konnte. Wie lange diese Kenntnisse – und seine Kräfte – ausreichen würden, um ihn über Wasser zu halten, war fraglich. Ächzend wühlte er sich aus einer Woge empor, die ihn unter sich begraben hatte, und stieß einen gellenden Schrei aus.
»Hilfe!«, brüllte er, heiser vor Erschöpfung. »So helft mir doch!« Aber der heulende Wind trug seine Stimme davon, und das Rauschen der Wellen übertönte auch noch den letzten kläglichen Rest.
Plötzlich konnte er sie sehen: die gedrungenen Formen des Schiffes, das der Gewalt des Sturmes trotzte. Steil bäumte es sich auf und kippte gefährlich zur Seite, vom losgeschlagenen Segel waren nur noch Fetzen übrig, die im Wind flatterten – und Conn erkannte, wie weit entfernt es bereits war.
Er begann zu schwimmen.
Mit aller Kraft, die ihm noch verblieben war, versuchte er, die Distanz zwischen sich und dem Schiff zu verkürzen, aber seine Hoffnung wurde grausam zunichtegemacht. Eine Welle schmetterte ihn in eine Senke, die so tief war, dass er das Schiff aus den Augen verlor. In verzweifeltem Zorn schrie Conn auf und schwamm abermals einige Züge, die ihn zwar an der Oberfläche hielten, ihn seinem Ziel jedoch kein Stück näher brachten. Im Gegenteil vergrößerte sich die Entfernung noch, denn als Conn den nächsten Blick auf das salandrium erhaschte, war es bereits dabei, mit dem Meer und dem nächtlichen Himmel zu verschmelzen.
»Baldric!«, brüllte Conn aus Leibeskräften gegen den Sturm und das Tosen. »Bertrand!«
Aber niemand hörte ihn, und im nächsten Moment verschwand das Schiff unaufhaltsam hinter dem Vorhang aus peitschendem Regen.
Unwiederbringlich.
Die Panik, die von Conn Besitz ergriff, war so abgrundtief wie das Meer unter seinen Füßen. Er fühlte sich unendlich klein und schwach, wie ein Staubkorn in der Unendlichkeit, dazu verurteilt, verloren zu gehen und einen elenden, unbedeutenden Tod zu sterben.
Plötzlich erblickte Conn etwas inmitten der schäumenden Wogen.
Ein Wasserfass!
Vermutlich war es nur unzureichend gesichert gewesen und über Bord gegangen. Da es zu einem guten Teil geleert war, schwamm es wie ein Korken obenauf.
Für das Schiff und seine Besatzung mochte der Verlust sich in Grenzen halten, womöglich würden sie ihn noch nicht einmal bemerken. Für Conn jedoch stellte dieses Fass ungleich mehr dar.
Es war ein Wunder.
Ein Fingerzeig Gottes.
Dankbar und verzweifelt zugleich schwamm er darauf zu. Eine Woge erfasste ihn, und einen Augenblick lang fürchtete er, erneut in eine andere Richtung getragen zu werden und das rettende Stück Holz zu verfehlen. Doch diesmal war das Glück auf seiner Seite.
Er erreichte das Fass und bekam es zu packen, umklammerte es wie einen alten, verloren geglaubten Freund – und das Fass bedankte sich für die erwiesene Zuneigung, indem es ihn einsam über Wasser hielt, die ganze Nacht hindurch, während der Sturm ihn davontrieb, hinaus in die eisige Dunkelheit und einem ungewissen Ziel entgegen.
»Und so bist du nach Hellas gelangt?«
Die sanfte Stimme Berengars, der neben ihm am Feuer saß, holte Conn in die Gegenwart zurück, wenn auch nicht sofort.
Es dauerte noch einen Moment, bis seine eigenen verzweifelten Schreie und das Tosen und Brausen in seinem Kopf verklungen waren. Erst dann nickte er bedächtig und fuhr mit tonloser Stimme fort: »Die ganze Nacht hindurch hielt ich mich wach und klammerte mich mit aller Kraft an das Fass. Mehrmals glaubte ich mich verloren, aber ich gab nicht auf. Und als der neue Tag heraufdämmerte, sah ich Land. Wie sich herausstellte, war es eine Insel …«
»Ithaka, nehme ich an.« Berengar, der in Geografie besser bewandert schien als Conn, wiegte nachdenklich das Haupt. »Das Eiland, von dem einst der wackere Odysseus zu seiner Irrfahrt aufbrach.«
»Wer?«, fragte Conn.
»Unwichtig.« Der Mönch lächelte. »Was ist dir dann widerfahren?«
»Fischer, mit denen ich mich mehr recht als schlecht verständigen konnte, brachten mich an Land, nachdem ich ihnen das einzige Geld gegeben hatte, das ich bei mir trug. Dann habe ich mich auf die Suche nach meinen Kameraden gemacht, sie aber nicht gefunden.«