»Vater«, setzte sie zu einem neuen Versuch an, vielleicht den einen oder anderen Hinweis aus ihm herauszulocken – als der Ausguck einen lauten Ruf vernehmen ließ.
Chaya schaute hinauf und sah den Mann im Krähennest heftig gestikulieren. Was er herunterrief, konnte sie nicht verstehen. Anders als ihr Vater, der der griechischen Sprache mächtig war und dessen Züge sich plötzlich verhärteten.
»Was ist?«, fragte Chaya.
»Schiffe«, sagte der alte Isaac nur.
Sie verließen beide das Bugkastell, überquerten das breite Oberdeck und enterten zur Achterplattform auf, wo Kapitän Georgios stand, die Arme in die breiten Hüften gestemmt und einen grimmigen Ausdruck in seinem von Salz und Sonne gegerbten Gesicht. Der Kreter war ein betagter Fahrensmann, der sich wohl bald zur Ruhe setzen würde. Seine schmalen, tief sitzenden Augen jedoch, die besorgt nach Süden blickten, waren so scharf wie die eines Falken.
In seiner Muttersprache gab der Kapitän etwas von sich, das eine Verwünschung sein mochte, denn er spuckte dabei aus und rieb sich das bärtige Kinn. Als er sah, dass seine beiden Passagiere zu ihm getreten waren, wechselte er in schlechtes Hebräisch, das er sprach, weil er öfter im Auftrag jüdischer Kaufleute segelte, die sich, obschon aus unterschiedlichen Ländern stammend, der alten Sprache als einem universellen Verständigungsmittel bedienten. »Das hat uns noch gefehlt. Erst diese wochenlangen Stürme, dann der schwache Wind. Und nun das.«
»Was?«, fragte Chaya, die am südlichen Horizont nicht mehr als ein paar dunkle, undeutliche Formen ausmachen konnte.
»Byzantinische Galeeren«, knurrte der Kreter und spuckte abermals in die See. »Dromone.«
»So weit im Osten?«, fragte Isaac verblüfft.
»Sieht ganz so aus.« Erneut spuckte der Kapitän in die See. »Offenbar genügt es Caspax nicht, jene Gebiete zurückzuerobern, die die Türken Byzanz entrissen haben.«
»Caspax?«, hakte Chaya nach, die den Namen nie zuvor gehört hatte.
»Der Befehlshaber der byzantinischen Flotte«, erklärte Georgios. »Kaiser Alexios hat ihn beauftragt, die verlorenen Städte und Inseln zurückzugewinnen, weshalb seit einigen Wochen Krieg in der nördlichen Ägäis tobt. Doch wie es scheint, gehen Caspax’ Pläne noch weiter – oder seine Unterführer ziehen es vor, auf eigene Faust Beute zu machen. In jedem Fall müssen wir schleunigst verschwinden.«
»Verschwinden? Warum?«
»Weil Caspax’ Kämpfer keine Männer von Ehre sind, sondern Söldner, die aus dem ganzen Reich zusammengetrieben werden und denen nur daran gelegen ist, sich die Taschen zu füllen. Wir wären nicht der erste Kauffahrer, den sie auf offener See kapern.«
»Was? Aber das … das ist …«
»Unrecht? Diebstahl?«, fiel Georgios ihr ins Wort und schaute sie herausfordernd an. »Mit beidem hast du recht, Junge. Aber bedauerlicherweise reicht mein Einfluss beim Kaiser nicht aus, um meine Beschwerde vorzutragen. Und weil das so ist, werde ich zusehen, dass ich möglichst viel Wasser zwischen mich und diese Wölfe der See bringe. Ist das klar?«
»Was wollt Ihr unternehmen?«, erkundigte sich Isaac ernst.
»Was wohl? Wir werden Abstand halten und nördlichen Kurs einschlagen.«
»Nördlichen Kurs? Aber das bringt uns nicht nach Alexandretta!«
»Schlau bemerkt, alter Mann.«
»Aber ich muss nach Antiochia, und das so rasch wie möglich. Ich habe ohnehin schon zu viel Zeit verloren!«
»Das nenne ich Pech«, konterte Georgios unbeeindruckt.
»Ihr könnt den Kurs nicht einfach ändern«, wandte Chaya ein, die die Verzweiflung ihres Vaters spüren konnte. »Wir haben Euch bereits für die Überfahrt bezahlt, und das überaus großzügig.«
»Das bestreite ich nicht. Dennoch werde ich nicht riskieren, meine gesamte Ladung und womöglich auch das Schiff zu verlieren«, gab der Kapitän bekannt, und die Endgültigkeit in seiner Stimme machte jede Hoffnung zunichte, er könnte es sich noch anders überlegen. Ohne seine beiden Fahrgäste noch eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte er sich ab und bellte einen Befehl auf Griechisch.
»Attalia?«, fragte Isaac daraufhin entrüstet. »Ihr wollt Kurs auf Attalia nehmen?«
»Und mich im dortigen Hafen verstecken«, bestätigte Georgios und reckte herausfordernd das bärtige Kinn vor. »Oder habt Ihr einen besseren Vorschlag, alter Mann? Wenn Ihr nach Antiochia wollt, so gelangt Ihr von Attalia aus auch auf dem Landweg dorthin.«
Isaacs Züge wurden bleich, so als würde alles Blut aus ihnen weichen, seine knochigen Hände ballten sich in hilfloser Wut zu Fäusten. »Aber das wirft uns um weitere Wochen zurück!«
»Tut mir leid, alter Mann«, versicherte der Kapitän, während er bereits dabei war, das Achterkastell zu verlassen. »Aber ich habe Caspax nicht geheißen, in diesem Teil der Welt Krieg zu führen. In Zeiten wie diesen ist es am besten, sich zu verkriechen, bis sich der Sturm wieder gelegt hat. Je eher Ihr das einseht, desto besser ist es für Euch.«
Damit verschwand er, und Chaya und ihr Vater blieben allein auf der Achterplattform zurück, wie benommen vor Entsetzen. Der alte Isaac atmete hörbar, einmal mehr musste er sich stützen, um nicht niederzusinken. »Dieser Narr«, ächzte er dabei und schüttelte das gebeugte Haupt. »Er hat keine Ahnung, wovon er spricht. All das hätte nicht geschehen dürfen, niemals! Es hätte nicht geschehen dürfen. Niemals …«
»Vater?« Als Chaya hörte, wie der alte Isaac immer dieselben Worte wiederholte, in dumpfer Monotonie wie jemand, der eine Beschwörungsformel sprach, schaute sie ihn verwundert an – und sah den fiebrigen Glanz in seinen Augen. »Vater! Was ist mit dir?«
Isaac Ben Salomon wandte den Blick und starrte seine Tochter an, wobei sie das Gefühl hatte, dass er geradewegs durch sie hindurch schaute. »Chaya«, hauchte er, »sieh, was aus uns geworden ist! Wir sind dem Schicksal ausgeliefert, ein Spielball der Wellen. Mein … mein Auftrag …«
Chaya erfuhr nie, was ihr Vater hatte sagen wollen, denn ein Stöhnen entfuhr seiner Kehle, und seine hagere Gestalt verkrampfte sich. Noch einen Augenblick lang hielt er sich aufrecht, dann brach er bewusstlos auf den Planken zusammen.
5.
Attalia
Zwei Wochen später
Wie sich gezeigt hatte, war Georgios nicht der einzige Kapitän, der sein Schiff lieber in einen sicheren Hafen gesteuert hatte, als es auf See einem ungewissen Schicksal auszusetzen.
Überall entlang der lykischen Küste drängten sich Kauffahrer und Handelsschiffe in den Häfen, die Schutz suchten vor dem Krieg, der draußen auf See entbrannt war. Und die Galeeren des Kaisers wiederum waren nicht die einzigen, die Tod und Zerstörung in diesen Teil der Welt trugen. Die Kreuzfahrer, deren Heere den langen Marsch nach Osten bewältigt hatten und nacheinander in Kleinasien eingetroffen waren, hatten das Seldschukenreich angegriffen und Nicaea erobert, und wie es hieß, unternahm der Sultan alles, um die Eindringlinge abzuwehren. Der Wahn, dessen zerstörerische Macht Chaya und ihr Vater bereits in Köln zu spüren bekommen hatten, hatte auch das Morgenland erreicht und drohte sie einzuholen.
In Attalia, wohin Georgios sein Schiff gelenkt hatte, fand Chaya Unterschlupf bei einer jüdischen Kaufmannsfamilie, die auch dem kranken Isaac Obdach gewährte. Nach seinem Zusammenbruch auf dem Schiff hatte er das Bewusstsein nur noch selten zurückerlangt, und wenn, dann nur für kurze Zeit oder von Traumbildern umfangen, die auch im wachen Zustand nicht von ihm ablassen wollten.