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Ein rätselhaftes Fieber ergriff von ihm Besitz, das Chaya auch unter Aufbietung aller Heilkünste, die sie von ihrer Mutter erlernt hatte, nicht zu senken vermochte. Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als die Silbermünzen ihres Vaters darauf zu verwenden, den Rat eines Arztes einzuholen. Auf Vermittlung der Kaufmannsfamilie kam sie an einen Mann namens Halikarnos, einen Griechen, der in Alexandrien Heilkunde studiert hatte und sich auf dem Weg nach Tarsus befand. Auch sein Schiff hatte einen sicheren Hafen angesteuert, sodass er vorerst in Attalia festsaß und dankbar für die Gelegenheit war, seine Kenntnisse in klingende Münze umzusetzen.

Meister Halikarnos untersuchte Isaac sorgfältig, konnte jedoch keine äußerlichen Gebrechen feststellen. Vielmehr kam er zu dem Schluss, dass der Zusammenbruch die Folge eines schwachen Herzens sei und das Fieber das Resultat ungezählter Strapazen, die den Kaufmann ausgezehrt hätten. Zudem war er der Ansicht, dass eine besondere Last auf Isaacs Seele ruhen müsse, und er ermahnte Chaya als dessen Diener dafür zu sorgen, dass sein Herr von Pflichten und Belastungen befreit werde. Chaya nickte nur und entgegnete nichts darauf. Hätte sie dem Arzt antworten sollen, dass ihr Vater eine uralte Schriftrolle hütete, deren Inhalt so geheim war, dass nicht einmal sie selbst ihn kannte?

Sie bekam Angst, nach ihrer Mutter nun auch noch den Vater zu verlieren, noch dazu inmitten unwirtlicher Fremde, deren Sprache und Gebräuche sie noch nicht einmal kannte. Tag und Nacht wachte sie an Isaacs Lager, kühlte seine glühende Stirn und legte ihm in Essig getränkte Verbände an, die die Hitze aus seinen Gliedern ziehen sollten. Dazu verabreichte sie ihm Kräuteraufgüsse und Tinkturen, die Halikarnos ihr gegeben hatte und von denen sie nur hoffen konnte, dass sie ihr Geld wert waren.

Eine Woche lang ging das Fieber nicht zurück.

Totenbleich lag der alte Isaac da, das weiße Haar hing in nassen Strähnen, Perlen von kaltem Schweiß übersäten die hohe Stirn. Sein Atem ging schwer, und immerzu formten seine Lippen unhörbare Worte, die auch dann nicht zu verstehen waren, wenn Chaya sich ganz zu ihm hinabbeugte. Bisweilen warf er den Kopf hin und her, so als wollte er die Albträume abschütteln, die ihn im Fieberwahn verfolgten. Dann ergriff sie seine klamme Hand und hielt sie fest, so als könnte sie seinen alten, gebrechlichen Körper auf diese Weise daran hindern, diese Welt zu verlassen.

Und Chaya betete.

Nicht immer waren es fromme Worte, die sie an den Herrn richtete, und so mancher Rabbiner hätte sie vermutlich dafür getadelt. Anklagend waren ihre Gedanken bisweilen, oft auch verzweifelt, und mitunter fragte sie nach dem Sinn, der hinter alldem stehen mochte. Gab es überhaupt einen? War es, wie ihr Vater stets behauptet hatte, tatsächlich Gottes Wille, der all dies geschehen ließ? Oder waren sie dem Zufall ausgeliefert, kleine Sandkörner in einer unendlichen Wüste, ihr Schicksal nicht von Belang?

Chaya fand keine Antworten auf diese Fragen. In ihrer wachsenden Verzweiflung blieb ihr nur, sich flehend an den Herrn zu wenden und sich ihm ganz anzuvertrauen als das zerbrechliche, schwache Wesen, das sie war – und der Herr schien sie zu erhören.

Am siebten Tag nach ihrer Ankunft in Attalia schlug ihr Vater erstmals wieder die Augen auf. Sie waren blutunterlaufen und lagen so tief in ihren Höhlen, dass Chaya Angst hatte, sie würden darin versinken. Aber sie nahm es als Zeichen der Besserung.

Zwar wütete das Fieber noch immer, doch ging es vor allem in den Nächten merklich zurück. Die Abschnitte, in denen der alte Isaac zu sich kam und mit fragenden Blicken um sich spähte, wurden zahlreicher und länger, und Chaya verstand zumindest eines der lautlosen Worte, die er immer wieder sprach.

Sefer.

Das Buch.

Chaya wusste nicht, ob sie erleichtert oder wütend darüber sein sollte, dass jener geheimnisvolle Auftrag, der ihn in die Ferne geführt hatte und letztlich der Grund für seinen Zustand war, ihn auch im Fieber noch verfolgte. Zorn erfüllte sie einerseits, wenn sie auf den Köcher blickte, der an einem Wandhaken neben dem Bett ihres Vaters hing, und sie fragte sich, wie ein solch unscheinbarer Gegenstand solche Opfer rechtfertigen konnte. Andererseits war sie froh darüber, ihren Vater überhaupt wieder sprechen zu hören, also antwortete sie ihm und sprach beruhigend auf ihn ein, wollte ihm den Weg zurück ins Leben weisen.

Eines Nachts – wieder hatte sie am Lager ihres Vaters gewacht und war irgendwann eingeschlafen – wurde sie unerwartet geweckt.

»Chaya?«

Jäh schreckte sie hoch. Ein Blick zu den kleinen Fenstern, die unterhalb der Decke in die Wand eingelassen waren, zeigte ihr, dass es draußen dunkel war. Die tönerne Öllampe auf der Truhe, die zusammen mit dem Bett und dem Schemel, auf dem Chaya kauerte, die einzige Einrichtung der kleinen Kammer bildete, war nicht erloschen. Folglich war noch nicht Mitternacht.

Jetzt erst erinnerte sich Chaya, dass eine Stimme sie geweckt hatte. Sie wandte sich ihrem Vater zu und stellte verblüfft fest, dass dieser sie anschaute. Und obwohl seine Augen glasig waren und von schwarzen Ringen umgeben, schien er seine Tochter zum ersten Mal wieder wirklich wahrzunehmen.

»Vater?«, fragte sie zaghaft.

Ein schwaches Nicken war Antwort und Belohnung zugleich.

»Wo …?«, wollte der alte Isaac fragen, aber das Sprechen schien ihm schwerzufallen. Ein schmerzhafter Ausdruck huschte über sein blasses Gesicht.

»In Attalia«, gab sie zur Antwort, und beruhigend fügte sie hinzu: »Wir sind in Sicherheit.«

Wieder nickte er. »Das Buch …«

»Es ist hier.« Sie nahm den Köcher vom Haken und reichte ihn Isaac, der ihn mit zitternden Händen entgegennahm.

»Versagt«, flüsterte er dabei. »Ich habe versagt.«

»Nein, das hast du nicht. Du musst nur wieder gesund werden und zu Kräften kommen, dann …«

»Versagt«, beharrte Isaac, wispernd wie der Herbstwind. »Tod und Zerstörung überall. Unsere Feinde sind uns gefolgt.«

»Nicht hierher, Vater.« Chaya schüttelte den Kopf. »Wir sind hier sicher«, betonte sie noch einmal.

»Nein, sie sind uns auf den Fersen. Sie wollen das Buch.«

»Das Buch, Vater?«

Der alte Isaac schaute sie an, und für einen Moment kam es ihr vor, als blitze in seinen Augen wieder der alte Scharfsinn auf. »Hast du dir je die Frage gestellt, Chaya, weshalb all dies in unserer Zeit geschieht?«

»Was meinst du, Vater?«

»Der neue Zorn gegen das Volk Israel. Dieser unselige Feldzug, der Tod und Verderben in das Morgenland trägt.«

»Doch, natürlich habe ich mich das gefragt. Aber ich habe keine Antwort darauf gefunden, denn Gottes Wille ist …« Sie unterbrach sich, als sie sein Mienenspiel bemerkte, den zugleich wissenden und verzweifelten Ausdruck von jemandem, der mehr wusste, als er sagen wollte. Instinktiv erriet sie seine Gedanken. »Du glaubst, dass es mit deiner Mission zusammenhängt? Mit dem Buch, das du bei dir trägst?«

»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll, meine Tochter«, gestand Isaac leise und mit glänzenden Augen. »Am Anfang schien alles einfach zu sein, ein Auftrag, der mir erteilt wurde und den zu erfüllen ich geschworen hatte. Aber mit jedem Hindernis, das uns erwächst, reift meine Überzeugung, dass sich noch mehr dahinter verbergen muss.«

»Noch mehr? Wovon sprichst du, Vater?«

»Warum nur haben wir uns auf den Weg gemacht? Warum haben wir diese Reise begonnen?«

»Nun …« Chaya zögerte. Die Antwort schien so offenkundig, dass sie nicht sicher war, ob ihr Vater klaren Verstandes war oder einmal mehr im Fieber sprach. »Weil wir bedroht wurden, oder nicht? Weil das Buch im Reich nicht länger sicher war. So jedenfalls hast du es mir gesagt.«

»Und das dachte ich auch«, hauchte er. »Inzwischen jedoch frage ich mich …«

»Ja, Vater?«, hakte sie nach. Sie konnte sehen, wie er schwächer wurde, aber sie wollte eine Antwort, ehe der Abgrund des Fiebers ihn erneut verschlang.