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»Wird unser Volk ohne jeden Grund angefeindet? Oder ist es, weil die Andersgläubigen die Gefahr fühlen, die ihnen droht?«

»Von uns?«, fragte Chaya stirnrunzelnd nach.

»Von dem Buch«, verbesserte ihr Vater. »Und von all jenen, die um sein Geheimnis wissen … Als mein Vater mir das Amt des Trägers übergab … Sagte mir, dass Rückkehr des Buches … Zeit der Veränderung … Frage mich, ob Zusammenhang … Hat begonnen …«

Chaya schüttelte den Kopf. Die Worte ihres Vaters wurden immer rätselhafter und zusammenhangloser. War es das Fieber? Oder versuchte er tatsächlich, ihr etwas zu sagen, das von großer Bedeutung war?

»Was hat begonnen, Vater? Ich fürchte, ich verstehe nicht.«

»Kalender der Christen … Ausgang des Jahrhunderts … kein Zufall. Dass Jerusalem erobern … alles fügt sich zusammen …«

»Was, Vater? Was fügt sich zusammen?« Chayas Unruhe wurde immer größer.

»Das Ende, Chaya«, ächzte der alte Isaac so leise, dass sie es fast von seinen Lippen lesen musste.

»Das Ende? Wovon?«

»Der Zeit«, gab ihr Vater kaum noch vernehmbar zur Antwort. Das Fieber und die Erschöpfung verlangten erneut Tribut, Müdigkeit breitete sich wie eine dunkle Decke über ihn. »Und dieser Welt.«

Trotz der Wärme einer klaren Sommernacht erschauderte Chaya bis ins Mark. »Ist es das, was du fürchtest?«, flüsterte sie und wagte kaum, das Undenkbare auszusprechen. »Das … das Weltgericht?«

Aber ihr Vater gab keine Antwort mehr.

Seine Augen waren geschlossen, sein Kopf zur Seite gefallen, seine Atemzüge keuchend, aber gleichmäßig.

»Vater?« Chaya berührte ihn sanft an der Schulter. »Sag es mir, Vater, bitte …«

Isaac blieb eine Antwort schuldig. Schlaf, der so tief war, dass er an Ohnmacht grenzte, hatte ihn erfasst, und Chaya konnte nur hoffen, dass es der ruhige, erholsame Schlaf der Genesung war. Die letzten Worte ihres Vaters jedoch wirkten nach wie eine bittere Medizin. Zur Sorge um den alten Isaac gesellte sich nun auch noch dumpfe Furcht aus dem tiefsten Grund ihres Herzens.

Das Ende der Welt.

War dies das Geheimnis, das das Buch von Ascalon enthielt? Verriet es, wo und wann das Weltgericht stattfand, jener Jüngste Tag, vor dem sich nicht nur Juden fürchteten, sondern auch Muselmanen und Christen? Stand er womöglich unmittelbar bevor?

Chaya spürte, wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte. Ihr Gesicht wurde heiß, ihre Handflächen schwitzten. Sie musste Antworten bekommen, und da ihr Vater nicht in der Lage war, sie ihr zu geben …

Als ihr Blick den ledernen Köcher traf, der wieder über dem Bett an der Wand hing, erschrak sie über ihre eigene Entschlossenheit.

Nur einmal hatte sie versucht, das Mysterium zu ergründen und das geheime Buch zu lesen. Einen zweiten Anlauf hatte sie, sei es aus Respekt oder aus heimlicher Furcht, nicht unternommen. Die dunklen Andeutungen ihres Vaters jedoch ließen sie alle Bedenken vergessen. Chaya wollte die Wahrheit erfahren, und sie war nicht gewillt, sich noch länger davon abhalten zu lassen.

Was verbarg sich hinter dem Buch von Ascalon?

Sie beugte sich zu dem Köcher und nahm ihn vom Haken. Eine gefühlte Ewigkeit lang wog sie das unerwartet leichte Behältnis in den Händen und betrachtete das Siegel, das im flackernden Lichtschein zu erkennen war: den sechszackigen, ineinander verschränkten Stern, das Siegel Salomons, wie ihr Vater es nannte. Ehrfurcht ergriff von ihr Besitz, und einen flüchtigen Moment lang erwog sie, von ihrem Vorhaben abzulassen. Dann fasste sie sich ein Herz und öffnete den Verschluss der Kappe.

Chaya war bereits dabei, die ledernen Schnüre aus den Ösen zu ziehen, als ihr Vater sich regte.

Ein geräuschvoller Atemzug, eine ruckartige Bewegung – der Kopf des alten Isaac flog in die Höhe.

»Was …?«

Chayas Herzschlag wollte fast aussetzen. Wie versteinert kauerte sie auf dem Schemel, das verbotene Objekt in den Händen. Sie wartete darauf, dass sich ihr Vater zu ihr drehen und sie auf frischer Tat ertappen würde. Aber was auch immer Isaacs Ruhe gestört haben mochte, es war nicht von langer Dauer. Er murmelte einige unverständliche Worte, dann schloss er die Augen und sank zurück auf das strohgefüllte Lager. Schon einen Atemzug später war er wieder eingeschlafen.

Rasch klappte Chaya die Verschlusskappe des Behälters auf und griff hinein. Sie konnte die dünne Haut von Pergament fühlen, die hölzernen Stäbe, auf die es gerollt war. In einem jähen Entschluss zog sie es heraus und hielt eine Schriftrolle in Händen, die auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches an sich hatte.

Weder war sie mit besonderen Verzierungen versehen, noch war sie versiegelt. Im Grunde, so dachte Chaya enttäuscht, unterschied sie sich in nichts von jenen unzähligen Listen und Aufstellungen, die ihr Vater im Arbeitszimmer des Handelskontors aufbewahrt hatte. Sollten sich Daniel Bar Levi und der alte Isaac am Ende geirrt haben? Waren sie einem Betrug aufgesessen?

Chayas Ehrfurcht wich und mit ihr das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Ohne zu zögern drehte sie an den Stäben und entrollte das Pergament.

Am Schriftbild konnte sie erkennen, dass das Buch von talentierter Hand, wenn nicht gar von der eines berufsmäßigen Sofers verfasst worden war. Jeder einzelne Buchstabe wirkte wie ein Kunstwerk und war von einer Ausgewogenheit und Harmonie, wie sie sonst nur auf Thorarollen anzutreffen war. Dazu war die Schrift von einer ungewohnten, altertümlich anmutenden Art, wie Chaya sie noch nie zuvor gesehen hatte. Auf geradezu unwiderstehliche Weise fühlte sie sich von den alten Zeichen angezogen.

Einzelne Worte stachen ihr ins Auge und fanden in ihr Herz, und im flackernden Licht der Öllampe begann sie zu lesen.

6.

Tal des Kara Su, westlich von Dorylaeum

1. Juli 1097

Conn rannte, den Speer krampfhaft umklammernd, und er tat das, was auch die anderen Männer taten, die zusammen mit ihm den Hang hinaufstürmten, ihre blanken Waffen in den Händen.

Er schrie aus Leibeskräften.

So laut, dass es den donnernden Hufschlag der Pferde übertönte, die zur Rechten vorbeijagten, das Schwerterklirren, das von jenseits der Hügelkuppe drang, und den trommelnden Schlag seines Herzens.

Der Befehl zum Vorrücken war unvermittelt gekommen.

Eben noch war der Heerhaufen lothringischer Soldaten, dem Conn vorläufig zugeteilt worden war, in loser Ordnung marschiert. Ihr Ziel war das Feldlager gewesen, das oberhalb des Flusses aufgeschlagen werden sollte, der das Tal in nördlicher Richtung durchfloss. Im weiteren Verlauf dann bog er abrupt nach Westen ab, der Stadt Dorylaeum entgegen, die nach Nicaea das nächste Ziel des Feldzugs sein sollte.

Doch die Ereignisse hatten sich überschlagen.

Boten waren eingetroffen, die von einem türkischen Überfall auf die Vorhut des Heeres berichtet hatten, die sich aus byzantinischen Soldaten sowie aus normannischen Kämpfern unter Bohemund von Tarent und Stephen de Blois zusammensetzte. Die Anführer der Hauptstreitmacht, allen voran Godefroy de Bouillon und Raymond de Toulouse, hatten daraufhin beschlossen, ihren in Bedrängnis geratenen Waffenbrüdern sofort zur Hilfe zu eilen.

Ein gnadenloser Eilmarsch durch das Tal des Kara Su hatte sich angeschlossen, der Flussbiegung entgegen, wo erbittert gefochten wurde. Unterwegs waren die Kämpfer Christi auf die Überreste des Trosses gestoßen, über den die seldschukischen Krieger mit erbitterter Grausamkeit hergefallen waren. Die Bilder verstümmelter Leichen von Alten, Frauen und sogar Kindern, die den Zug als waffenlose Pilger begleitet hatten und die ohne Gnade niedergemacht worden waren, standen Conn noch vor Augen. Er war jedoch nicht in der Lage, Entsetzen, Trauer oder gar Hass auf den erbarmungslosen Feind zu empfinden. Zu anstrengend war der Sturmlauf, der durch die Furt des Flusses die breite Uferböschung hinaufführte, zu beschäftigt war er damit, seine Furcht zu beherrschen, die nagende Ungewissheit vor dem Kampf …