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»Was wollt ihr also tun?«, bohrte Mordechai weiter, ohne auf den Einwand einzugehen oder auch nur den Versuch zu unternehmen, ihn zu entkräften. »Wollt ihr die Stadt verlassen? Wollt ihr aufgeben, was wir hier durch unseren Fleiß und unserer Hände Arbeit aufgebaut haben, nur weil ihr euch fürchtet?«

»Zumindest wäre es eine Überlegung wert«, antwortete der Vorsteher ohne Zögern, was zu Chayas Bestürzung bewies, dass er sich bereits darüber Gedanken gemacht hatte. »Wir könnten bei den Gemeinden anderer Städte um Aufnahme bitten und dort so lange bleiben, bis die Aufrührer wieder abgezogen sind.«

»Niemals!«, widersprach Mordechai entschieden und sprang auf. Sein weiter Mantel raschelte, als er die Arme effektheischend ausbreitete. »Wisst ihr, was ich viel eher denke?«, fragte er in die Runde.

»Was?«, wollte Isaac wissen.

Ein hintergründiges Lächeln spielte um die bärtigen Züge des Jüngeren. »Es ist kein Geheimnis, dass unsere Kontore in Konkurrenz zueinander stehen, Ben Salomon«, sagte er dann. »Und natürlich wisst Ihr genau wie ich, dass die Anwesenheit der Soldaten in der Stadt gute Geschäfte bedeutet. Ob Wein, Tuch, Stahl oder Leder – die Nachfrage nach diesen Gütern ist in den vergangenen Wochen sprunghaft angestiegen und hat uns beiden wachsende Einkünfte beschieden. Ist es nicht so?«

»Was hat das eine mit dem anderen zu tun?«, fragte Isaac.

»Wisst Ihr es wirklich nicht? Oder gebt Ihr Euch nur unwissend, um Eure wahren Beweggründe zu verschleiern?«

»Was für Beweggründe?« Chaya kannte ihren Vater gut genug, um zu sehen, dass es ihm inzwischen schon schwerer fiel, die Fassung zu wahren. Auch sie selbst konnte fühlen, wie ihr Blut in Wallung geriet. Was führte Mordechai im Schilde?

»All die Gewinne, die Ihr in den letzten Wochen verzeichnen konntet, hätten noch ungleich höher ausfallen können, hättet Ihr sie nicht mit Euren Konkurrenten teilen müssen«, führte dieser bereitwillig aus, worauf er nach beiden Seiten schielte, um zu sehen, was seine Worte bei den anderen Ratsmitgliedern und Vornehmen bewirkten. »Was aber, wenn Ihr sie mit einem geschickten Winkelzug aus dem Feld räumen und auf diese Weise ganz allein Geschäfte mit den Soldaten machen könntet?«

»Das traut Ihr mir zu?« Fassungslosigkeit sprach aus den Zügen ihres Vaters, und Chaya musste an sich halten, um ihre Empörung über diese gemeine Unterstellung nicht laut hinauszuschreien. Auch die übrigen Räte schienen betroffen. Blicke wurden gewechselt, hier und dort leise getuschelt, aber nur einer verlieh seiner Erschütterung tatsächlich Ausdruck.

»Mordechai Ben Neri«, sagte Bar Levi im Tonfall eines Lehrers, der einen Schüler schalt, »dass Ihr Euch nicht schämt, im Haus Gottes einen derart abscheulichen Verdacht zu äußern! Noch dazu, wo Ihr genau wisst, dass unser geschätztes Ratsmitglied Ben Salomon noch immer den schrecklichen Verlust betrauert, der über ihn und seine Tochter gekommen ist.«

»Der Tod Eurer Gattin hat uns alle tief getroffen, Ben Salomon«, räumte Mordechai ein, »und natürlich gehört Euch in diesem Jahr der Trauer mein ganzes Mitgefühl …«

»Ich danke Euch«, sagte Isaac.

»… aber selbst der Schmerz über den Verlust eines geliebten Menschen darf nicht zwischen uns und der Wahrheit stehen«, fuhr der Jüngere fort. »Würdet Ihr, wenn die Dinge umgekehrt lägen, nicht einen ähnlichen Verdacht hegen? Alle hier wissen um die Rivalität unserer Familien, die Generationen zurückreicht. Mein Vater und Ihr, Isaac Ben Salomon, sind erbitterte Konkurrenten gewesen. Ist es da nicht nachvollziehbar, dass ich mich frage, ob Ihr die Gelegenheit womöglich nutzen wollt, um die Geschäftsverhältnisse in der Stadt zu Euren Gunsten zu beeinflussen? Wenn es nicht so ist, so nehmt meine Entschuldigung dafür, dass ich so dachte. Aber sollte es so sein, seid versichert, dass ich dies niemals zulassen werde.«

In der Synagoge war es so still geworden, dass nur noch das leise Fauchen der Kerzen zu hören war, die im kreisförmigen Leuchter unterhalb der Deckenkuppel brannten und die der Windzug fortwährend flackern ließ. Dabei tauchten sie den Thoraschrein und die Bima in unstetes Licht, und es sah aus, als würden sich die Tierfiguren, mit denen die Wände bemalt waren, bewegen. Aller Augen hatten sich auf Isaac gerichtet, der auf seinem Hocker saß und tief aus- und einatmete, sich mühsam zur Ruhe zwingend. Natürlich waren die Vorwürfe völlig aus der Luft gegriffen, und vermutlich wusste Mordechai dies auch. Aber er schien keinesfalls gewillt, der Argumentation Isaacs und Daniel Bar Levis zu folgen, und Chaya hegte den dumpfen Verdacht, dass es entgegen seiner Beteuerungen nicht nur geschäftliches Interesse war, das ihn so handeln ließ, sondern auch der gekränkte Stolz eines Mannes, dessen Brautwerbung zurückgewiesen worden war.

Mit einem Mal fühlte sie sich schuldig an dem, was dort unten im Rat geschah. Gebannt schaute sie auf ihren Vater, der in diesem Moment zu einer Erwiderung ansetzte.

»Mordechai Ben Neri«, entgegnete er und schien jedes einzelne Wort mit Bedacht zu wählen, »ich führe es auf Eure Jugend und Eure Unerfahrenheit zurück, dass solche Worte über Eure Lippen kommen, und werde sie deshalb nicht als das werten, was sie tatsächlich sind, nämlich eine gemeine Verleumdung. Es stimmt, dass Euer Vater mein ärgster Konkurrent gewesen ist und mir manches lohnende Geschäft vor der Nase weggeschnappt hat. Aber selbst Euch müsste klar sein, dass ich eine Situation wie diese, in der sich dunkle Wolken über unserem Volk zusammenziehen, niemals nutzen würde, um daraus Gewinn zu schlagen, und dass ich die Überlegungen unseres geschätzten Parnes nur deshalb unterstütze, weil ich mich wie er um das Wohl unserer Gemeinde sorge.«

»Wollt Ihr mir unterstellen, das täte ich nicht?«, fragte Mordechai, und im angriffslustigen Funkeln seiner Augen hatte Chaya für einen Moment das Gefühl, seinen Vater zu erblicken. Die erstaunliche Fähigkeit, jemandem das Wort im Mund herumzudrehen, hatte Mordechai fraglos von ihm, und wie der allgemeinen Entrüstung zu entnehmen war, zeigte sie noch immer Wirkung. »Ich habe die Nachfolge meines Vaters in diesem Gremium nicht angetreten, weil ich nach Einfluss oder Anerkennung dürste«, tönte er fort, »sondern weil ich als wohlhabendes Mitglied dieser Gemeinde Verantwortung trage für unser aller Wohlergehen. Und diese Verantwortung sagt mir, dass es falsch wäre, sich der Furcht zu ergeben, sondern dass wir auf das vertrauen sollten, was wir uns über eine lange Zeit hinweg mühevoll erarbeitet haben, nämlich die Freundschaft und die Anerkennung jener, in deren Städten wir leben, denen wir Tribut entrichten und die geschäftlich mit uns verkehren.«

»Freundschaft?« Isaac schaute ihn durchdringend an. »Glaubt Ihr wirklich, die Christen wären uns freundschaftlich verbunden? Ihr verwechselt den Respekt, den sie uns entgegenbringen, mit Liebe. Vielleicht, weil Ihr den Unterschied nicht kennt.«

Chaya hielt den Atem an. Ihr war klar, dass ihr Vater nicht nur vom Verhältnis Mordechais zur Gemeinde sprach – und Mordechai wusste es vermutlich auch. Seine Augen verengten sich, seine Lippen begannen vor Wut zu beben. »Spitzfindigkeiten«, rief er und machte eine unwirsche Handbewegung. »Respekt oder Liebe, was gilt es mir? Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Christen ihr gutes Verhältnis zu uns leichtfertig gefährden oder es gar aufs Spiel setzen würden.«

»Ich ebenso wenig«, pflichtete Jakob Lachisch bei, der Gabbai und Buchführer der Gemeinde. Auch von den anderen Sitzen kam Zustimmung, sodass die Stimmabgabe, um die der Vorsteher schließlich bat, nur noch eine Sache der reinen Form war.

Nur drei der zwölf Mitglieder des Rates waren dafür, Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen und andere Gemeinden um Hilfe zu bitten. Die überwältigende Mehrheit hingegen schloss sich Mordechais Argumentation an und stimmte dafür, alles beim Alten zu belassen und den Sturm, der sich vielleicht über anderen Städten, ganz sicher aber nicht über Köln zusammenbrauen mochte, vorüberziehen zu lassen. Lediglich allgemeine Schutzmaßnahmen wurden beschlossen – so wollte man eine Empfehlung aussprechen, die den Mitgliedern der jüdischen Gemeinde nahelegte, das eigene Viertel nur zu verlassen, wenn die Notwendigkeit es verlangte, keinesfalls jedoch nach Einbruch der Dunkelheit. Außerdem wurde auf Drängen Rabbi Akibas ein allgemeines Fasten angeordnet, mit dem man Gott um Beistand bitten wollte.