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Attalia

Anfang Juli 1097

Isaac Ben Salomons Zustand hatte sich merklich gebessert.

Es war ein langsamer, zäher Prozess gewesen, von zahlreichen Rückschlägen begleitet. Das Fieber der Erschöpfung hatte den Geist des alten Kaufmanns in finstere Abgründe gezerrt, aus denen er beinahe nicht wieder herausgefunden hätte; in ungezählten Nächten hatte Chaya an seinem Lager gewacht, während sein Bewusstsein im dunklen Niemandsland zwischen Traum und Wachen gefangen gewesen war. Mitunter, in lichten Momenten, hatte er die Augen aufgeschlagen und war ansprechbar gewesen. Oft hatte Chaya dann neue Hoffnung geschöpft und geglaubt, dass die Krise überwunden sei. Aber dann war das Fieber zurückgekehrt und der alte Isaac wieder in jenen Dämmerzustand gesunken, in dem er von Nachtmahren verfolgt wurde und sein Mund nur unverständliche Worte murmelte.

Indem sie ihm Kräuteraufgüsse einflößte und das Fieber zu senken suchte, tat Chaya, was menschenmöglich war. Der Rest, so hatte der Arzt ihr versichert, lag in Gottes Hand, und so betete Chaya zum Herrn, flehte ihn an, das Leben ihres Vaters zu schonen, der eine so große Aufgabe übernommen hatte – die wahren Dimensionen von Isaacs Mission freilich begann sie erst in diesen Tagen zu begreifen.

Wann immer sie nicht bei ihrem Vater weilte, las sie in dem geheimen Buch, dessentwegen sie eine so weite und gefahrvolle Reise auf sich genommen hatten. Je öfter sie es tat, desto leichter fiel es ihr, seine ungewöhnlich geformten Zeichen und die altertümliche Sprache zu verstehen. Anfangs hatte sie sich elend dabei gefühlt, ihren Vater zu hintergehen. Doch mit jeder Seite war sie tiefer in das Buch eingesunken, bis sie schließlich das Gefühl gehabt hatte, selbst ein Teil des Geheimnisses zu sein, das seit so langer Zeit bewahrt wurde. Als sich ihr schließlich die Wahrheit offenbarte, da war die Erkenntnis schockierend und läuternd zugleich, eine reinigende Katharsis, wie kein irdischer Dichter sie ersinnen konnte.

Eine Schrift von solcher Wichtigkeit, dass sie die Geschicke der Welt verändern konnte – so hatte ihr Vater das Buch von Ascalon einst genannt. Nun endlich wusste Chaya, was er damit meinte.

Mit einer Mischung aus Erleichterung und Bestürzung stellte sie fest, dass sie ihn nun besser denn je verstand. Alle weltlichen Belange und menschlichen Bindungen, selbst die Liebe eines Vaters zu seiner Tochter, verblassten angesichts jener ungeheuren, alles verändernden Enthüllung, von der das Buch berichtete. Der Abschied von der alten Heimat, die Entbehrungen der langen Reise, selbst die zahllosen Ängste, die Chaya durchlitten hatte, all das war bedeutungslos geworden.

Nicht alles, was in jenen altertümlichen Zeichen geschrieben stand, hatte Chaya erfassen können, manches davon war in Rätsel gehüllt; aber sie kannte nun den Grund, weshalb das Buch unbedingt nach Antiochia gebracht werden musste, wo ihr Onkel Ezra sie erwartete.

»Nun, Vater?«, fragte sie, als sie den Vorhang beiseiteschlug und in die Kammer trat, die in den letzten Wochen als Krankenquartier gedient hatte. Der Schein der Morgensonne fiel durch die Fensteröffnungen und tauchte den kleinen Raum in warmes Licht. »Wie fühlst du dich?«

Isaac saß auf der Kante seines Lagers, das Gesicht in den Händen vergraben. Nach all den Wochen, in denen er darniedergelegen hatte, tat es gut, ihn wieder aufrecht zu sehen, zumal es Tage und Nächte gegeben hatte, da Chaya nicht mehr daran geglaubt hatte. Er schaute zu ihr auf. Seine Züge waren schmal und ausgezehrt, die Augen noch immer dunkel gerändert. Aber es war nicht mehr die Miene eines Mannes, der vom nahen Tod umfangen war, sondern der allmählich wieder zu Kräften kam.

»Wie ich mich fühle?« Isaacs schmallippiger Mund verzog sich zu einem zaghaften Lächeln. »Wie würdest du dich fühlen, wenn du deinem eigenen Ende nur knapp entgangen wärst?«

»Ich wäre dankbar«, erwiderte sie und ließ sich neben ihm auf der Bettkante nieder. In ihren Händen hielt sie eine tönerne Schüssel, die einen zähflüssigen Brei enthielt, der aus Hirse und getrockneten Früchten zubereitet war und den sie ihm nötigenfalls Löffel für Löffel einzuflößen gedachte. »Und ich würde den Herrn auf den Knien für das Wunder preisen, das er vollbracht hat.«

»Von welchem Wunder sprichst du? Einem armen, alten Narren das Leben zu retten?«

»Einem armen, alten Narren, der eine Mission zu erfüllen hat«, brachte Chaya lächelnd in Erinnerung.

Isaac nickte, ohne das Lächeln zu erwidern. Dabei blickte er an sich herab auf den Köcher, der um seine Brust hing. »Als ich im Fieber lag, wurde ich von Albträumen verfolgt und düsteren Visionen. Und bisweilen wünschte ich mir, nicht ins Leben zurückzukehren.«

»Vater!« Chaya schüttelte den Kopf. »So etwas darfst du nicht sagen! Ich brauche dich!«

Der alte Isaac hob den Blick. Resignation stand in seinen tief liegenden, müden Augen. »Deine Mutter, Chaya … ich konnte ihre Nähe fühlen. Das Verlangen, zu ihr zu gehen und wieder mit ihr vereint zu sein, war übermächtig.«

»Dennoch hast du ihm nicht nachgegeben«, hielt Chaya dagegen, blinzelnd, um ihre Tränen zu vertuschen. Damals, nach dem Tod ihrer Mutter, hatte sie denselben resignierenden Ausdruck in seinen Augen gesehen. Hatte sie ihren Vater mit Mühe den Klauen des Fiebers entrissen, damit er nun zurückfiel in die alte Lethargie? »Du hast nicht aufgegeben, sondern bist ins Leben zurückgekehrt.«

»Aber wozu?« Er zuckte mit den Schultern, die sich dürr und kantig unter seiner Tunika abzeichneten. »Was ist das für ein Leben, Chaya? Ein stolzer Kaufmann bin ich einst gewesen, wohlhabend und einflussreich – und nun sieh mich an! Ein alter Narr bin ich geworden, der einem Traum nachjagt und darauf hofft, dass die Geschichte ihn nicht einholt. Und du, meine Tochter? Eine glänzende Zukunft hatte ich mir für dich ausgemalt, an der Seite eines Mannes, der dich achtet und ehrt und dem du Kinder schenkst, an denen sich mein Herz erfreuen kann. Und nun?«

»Wäre ich in Köln zurückgeblieben und hätte Mordechai geheiratet, so wäre ich elend verkümmert«, erwiderte Chaya, um Fassung bemüht. Sie wollte sich nicht anmerken lassen, wie sehr die Zweifel ihres Vaters sie trafen. »Hier jedoch darf ich die sein, die ich bin, und ich bin nirgendwo lieber als hier bei dir.«

»Dann bist du entweder auch eine Närrin oder hast nicht verstanden, was in der Welt vor sich geht. Meine Mission ist verloren, Chaya. Hast du nicht gehört, was geschehen ist? Die Fanatiker, die unter dem Banner des Kreuzes kämpfen, sind in das Reich der Türken eingefallen. Die ersten Städte haben sie schon erobert und sind nun auf dem Weg nach Süden.«

»Ich habe es gehört, Vater«, bestätigte Chaya in einem Anflug von Trotz. »Aber noch haben sie das Land der Väter nicht erreicht. Noch ist Zeit, das Buch nach Antiochien zu Onkel Ezra zu bringen.«

»Und du glaubst, dass uns das gelingen wird?« Der alte Isaac schnaubte voller Selbstverachtung. »Nachdem es mich mehr als ein Jahr und fast mein Leben gekostet hat, hierherzugelangen?«

Chaya nickte. Ihr Vater hatte recht. Am Tag nach Schawuot hatten sie ihre alte Heimat verlassen, und während er im Fieber gelegen hatte, war das Fest der Thora erneut begangen worden. »Moses hat vierzig Jahre gebraucht, seine Reise zu vollenden«, versuchte sie ihren Vater dennoch zu trösten.

»Das ist wahr, aber am Ende dieser langen Zeit erreichte er ein Land, in dem Milch und Honig flossen, wenngleich es ihm nicht vergönnt war, es selbst zu betreten. Wir hingegen sind Reisende in einer von Gott verlassenen Welt.«

»Noch hat der Herr der Welt nicht den Rücken gekehrt. Dass du das Fieber überlebt hast, ist der beste Beweis dafür. Gott will, dass wir das Buch an seinen Ursprungsort zurückbringen – und hast nicht du mir erklärt, dass es nicht unser, sondern Gottes Wille ist, der über unser Leben bestimmt?«