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Der alte Isaac antwortete nicht. Bedauern stand in seinem trüben Blick zu lesen, Schwermut und Trauer.

»Der Herr hat dich erhalten«, fügte Chaya deshalb zur Bekräftigung hinzu, »weil er will, dass du zu Ende bringst, was du begonnen hast – und ich will es auch.«

»Du, meine Tochter?« Er schaute sie fragend an.

Chaya nickte. »Als ich an deinem Lager saß und nicht wusste, ob du wieder zu Kräften kommen oder am Fieber zugrunde gehen würdest, hatte ich viel Zeit zum Nachdenken. Ich weiß jetzt, dass deine Absichten stets nur die besten waren, Vater, und wenn ich dir jemals das Gefühl gegeben haben sollte, dass ich dich bei deiner Aufgabe nicht unterstütze, dann bedaure ich das von Herzen und verspreche dir, es in Zukunft besser zu machen.«

»Sei vorsichtig mit dem, was du versprichst, Tochter. Versprechen sind allzu leicht gegeben.«

»Ich habe vor, das meine zu halten«, kündigte Chaya mit fester Stimme an, »sofern du auch weiter das tust, was du versprochen hast. Komm vollends zu Kräften, und dann lass uns nach Antiochia gehen, um zu Ende zu bringen, was wir angefangen haben.«

»Willst du das wirklich?«

»Allerdings, Vater.«

»Warum?«

Chaya zögerte.

Sollte sie ihm sagen, dass sie sein Verbot übertreten, dass sie das Buch gelesen hatte? Dass sie das Geheimnis der Schriftrolle nun kannte und um die Wichtigkeit seines Auftrags wusste? Dass ihre eigenen Belange und Nöte ihr beinahe gleichgültig geworden waren angesichts jener großen, alles verändernden Worte?

Sie starrte dabei auf den Boden der Kammer und dachte nach. Dann hob sie den Blick und lächelte sanft.

»Weil wir es beide versprochen haben, Vater.«

8.

Anatolisches Hochland

Mitte Juli 1097

Es war mörderisch.

In englischen Sommern, wenn die Sonne gegen Mittag ihren höchsten Stand erreicht und mit ihren Strahlen die Gassen von London in ein Labyrinth aus wabernder Schwüle und bestialischem Gestank verwandelt hatte, hatte Conn geglaubt zu wissen, was Hitze war.

Ein Irrtum, wie er hatte einsehen müssen.

Erst zwei Wochen lag die Schlacht im Tal des Kara Su zurück, die die Kreuzfahrer siegreich für sich entschieden hatten. Dennoch kam es Conn vor, als wäre seither eine Ewigkeit vergangen.

Noch ganze zwei Tage lang hatten sie am Wegesrand die Leichen gefallener Türkenkrieger vorgefunden, die auf der Flucht erschlagen oder von Pfeilen getroffen worden waren. Nachdem sie Dorylaeum hinter sich gelassen hatten, war es hinauf gegangen in die Weite des anatolischen Hochlandes, das sich als schier endlose Wüstenei erwies, die dem durchziehenden Heer weder Obdach noch Nahrung bot – und das nicht nur, weil die Sonne erbarmungslos vom Himmel brannte und das ohnehin schon trockene, von Staub und Sand bedeckte Land am Tage in einen wahren Glutofen verwandelte; sondern auch, weil die Seldschuken sich unter ihrem Sultan Kilidj Arslan auf ihrer Flucht nach Süden gewandt hatten und dem Kreuzfahrerheer vorauseilten. Wohin sie auch kamen, hinterließen sie verbrannte Erde und totes Land.

Die Straße, die noch aus römischer Zeit stammte und sich als steinernes Band durch die karge Landschaft zog, passierte unzählige Dörfer und kleine Städte, deren Hütten jedoch allesamt abgebrannt oder niedergerissen worden waren; auf den Äckern, die dem kargen Boden mit viel Mühe abgetrotzt worden waren, lag nichts als graue Asche; wohin man auch schaute, verwesten die Kadaver von Schafen, Ziegen und Eseln in der Sonne, deren Gestank sich zusammen mit dem bitteren Brandgeruch zu einem scheußlichen Odem des Todes vermischte. Mitunter waren am Straßenrand auch Lanzen aufgepflanzt, auf denen die Köpfe abgeschlachteter Dorfbewohner steckten, Christen zweifellos, die man umgebracht hatte, damit sie den Kreuzfahrern keine Unterstützung gewähren konnten.

Anfangs hatte sich unter den Kreuzfahrern noch Empörung über solche Gräuel geregt, und man hatte sich ereifert über die Barbarei der Heiden und ihnen blutige Rache geschworen. Doch mit jedem Tag, an dem die Männer marschierten und nichts anderes zu sehen bekamen als verwesende Körper und verbranntes Land, mit jeder Siedlung, die sie zerstört vorfanden, und mit jeder Stunde, da die Sonne vom Himmel brannte, wurden die Schreie nach Vergeltung weniger. Den Kreuzfahrern wurde klar, dass ihnen inmitten des anatolischen Hochlands eine harte Prüfung bevorstand.

Die Euphorie des Sieges, die sie noch in den ersten Tagen begleitet hatte, ließ spürbar nach. Beklemmung breitete sich aus, und dies nicht nur des grauenvollen Anblicks wegen, der sich den Männern und Frauen des Zuges bot, sondern auch, weil die Vorräte, die man auf Kamelen und Ochsenkarren mitführte, schon nach der ersten Woche aufgezehrt waren und man begriff, dass das verwüstete Land das Heer nicht ernähren würde.

Man war auf sich gestellt.

Dreißigtausend Seelen, umgeben von Hitze und Ödnis. Und Tod.

Als der erste Kämpfer leblos vom Pferd fiel – ein lothringischer Ritter, der in Ermangelung von frischem Wasser seinen brennenden Durst mit vergorenem Wein gestillt hatte –, war das Aufsehen noch groß gewesen, und manche hatten geglaubt, in diesem ungewöhnlichen Vorfall ein Zeichen des Herrn zu erkennen.

Inzwischen war das Bild von Männern und Frauen, die während des Marsches zusammenbrachen, und von Reitern, die infolge der mörderischen Hitze tot aus den Sätteln stürzten, trauriger Alltag geworden. Zuerst traf es die Schwachen: Frauen, Alte und Kinder. Später jedoch hielt der Tod auch unter den Soldaten reiche Ernte: Überhitzung, Durst, Hunger, Durchfall oder das Gift von Schlangen und Skorpionen – das Ende, so mussten die Kreuzfahrer erkennen, kam rasch in diesen Breiten, ohne dass der heidnische Feind sich auch nur ein einziges Mal blicken ließ.

Berengar, der neben Conn in der Kolonne marschierte, die sich als schier endloser Wurm über die staubige Straße schleppte, bekreuzigte sich, wann immer sie den Leichnam eines jener Unglücklichen passierten, die beizusetzen man weder Zeit noch die nötige Kraft hatte.

Und er bekreuzigte sich oft in diesen Tagen …

»Möge der Herr sich eurer Seelen erbarmen«, murmelte er, als sie den Leichnam einer jungen Frau passierten, die offenbar vor ihrer Zeit niedergekommen war. Ein lebloses Bündel lag in ihren Armen, das sie selbst im Tode noch an sich zu pressen schien. Blut tränkte ihr zerschlissenes Kleid und den Boden.

Conn schaute weg. Er ertrug den Anblick nicht, zumal er Erinnerungen weckte, die er …

»Was hast du, Conwulf?«, wollte Berengar wissen.

»Nichts«, antwortete Conn knapp. Infolge des brennenden Dursts war seine Zunge angeschwollen und erschwerte das Sprechen.

Im Schatten der Kapuze, die er hochgeschlagen hatte, um sein Haupt vor den sengenden Sonnenstrahlen zu schützen, huschte ein freudloses Lächeln über die Züge des Mönchs. »Ich sehe, du bist dabei, dieselben Erfahrungen zu machen, die auch ich schon machen musste. Du solltest dich vorsehen, Conwulf, sonst könnte es sein, dass deine Seele Scha…«

Ein Stück weit vor ihnen gab es plötzlich Unruhe.

Ein Maulesel, dem das Gepäck aufgebürdet worden war, das zuvor zwei Tiere getragen hatten, brach blökend zusammen. Sein Besitzer, ein Ritter, der offenbar auch schon sein Schlachtross eingebüßt hatte und den Sattel zusammen mit dem Schild auf dem eigenen Rücken trug, riss an den Zügeln und versuchte verzweifelt, das Maultier zum Aufstehen zu bewegen, aber es konnte nicht mehr. Es würde qualvoll verenden wie so viele andere, denn wo den Menschen kaum noch etwas blieb, bekamen die Tiere erst recht nichts mehr.

»Ich habe nicht erwartet, dass es so sein würde«, gestand Conn, als sie das kraftlos mit den Hufen schlagende Tier passierten. Die Nüstern des Maulesels blähten sich unaufhörlich, Schaum stand ihm vor dem Maul, während sein Besitzer ihn mit Flüchen überschüttete.