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Dann schoss er in die Höhe, stürzte aus dem Zelt und übergab sich.

10.

Kilikien

August 1097

Die Lage entlang der anatolischen Küste hatte sich im Lauf des Sommers weiter zugespitzt.

Zwar hatten sich die Kampfhandlungen zwischen Türken und Byzantinern nach Norden verlagert, wo erbittert um den Besitz der kleinasiatischen Inseln und der Stadt Ephesus gerungen wurde; jedoch hatte sich ein Pirat mit Namen Guynemer aus Bologne die unsichere Lage zunutze gemacht. Mit einer kleinen Flotte von Schiffen verbreitete er Angst und Schrecken im östlichen Meer, was zur Folge hatte, dass auch weiterhin Handelssegler und Kauffahrer aus Furcht vor Kaperung die Küsten Lykiens und Pamphyliens ansteuerten. Entsprechend viele Schiffe waren es, die in der Bucht von Attalia vor Anker lagen und deren Ladung darauf wartete, auf dem Landweg an ihren eigentlichen Bestimmungsort gebracht zu werden – und entsprechend schwierig gestaltete es sich, Lasttiere aufzutreiben und Anschluss an eine Karawane zu finden.

Die Pferde- und Kamelhändler der Stadt hatten, ebenso wie die Träger und Treiber, die Zeichen der Zeit erkannt und verlangten Preise, die an Wucher grenzten. So kostete es den wieder genesenen Isaac Ben Salomon nicht nur einige Tage eingehender Suche, sondern auch ein kleines Vermögen, zwei Maultiere zu erwerben, die seine Tochter und ihn tragen würden, und einen Esel zum Transport von Wasser und Proviant. Und gegen eine weitere, nicht unbeträchtliche Summe Geldes gestattete man ihnen, sich einer syrischen Karawane anzuschließen, die mit ihren Waren zunächst nach Tarsus und dann weiter nach Damaskus wollte.

Um dieses Ziel zu erreichen, gab es grundsätzlich zwei Wege – zum einen jenen gefährlichen Pfad, der an der von Räuberbanden verseuchten Küste entlangführte, zum anderen die alte Handelsstraße, die sich nördlich des Taurusgebirges durch das anatolische Hochland wand. Dort jedoch herrschte Krieg.

Die Kreuzfahrer, so wusste man inzwischen, hatten Nicaea eingenommen und das Heer des Sultans vor Dorylaeum geschlagen; nun waren die Eroberer auf dem Weg nach Süden und nahmen dabei genau jene Route, auf der auch Karawanen zu reisen pflegten. Doch da die Truppen des Sultans auf ihrem Rückzug durch Anatolien nichts als verwüstetes Land hinterließen, um den Eindringlingen das Vorankommen zu erschweren, gehörte nicht viel dazu, sich auszumalen, was geschehen würde, wenn eine schwer beladene Karawane, noch dazu im Besitz muslimischer Kaufleute, auf die sicher ausgehungerten und von Mangel gezeichneten Kreuzfahrer stieß.

Die Syrer entschieden daher, ihr Glück lieber mit den Räubern entlang der Küste zu versuchen. Eine Gruppe armenischer Söldner, die die Karawane begleitete, sollte etwaige Angreifer abschrecken, und zumindest zu Beginn der Reise ging diese Rechnung auf.

Unbehelligt zog die Karawane mit ihren Packpferden und Kamelen, ihren Eseln und Maultieren an der Küste entlang nach Osten, die glitzernde Weite des Meeres zur Rechten und die steilen Hänge des Taurus zur Linken. Aufgrund der schlechteren Beschaffenheit des Weges kam man langsamer voran, als es unter günstigen Voraussetzungen auf der Handelsstraße der Fall gewesen wäre, aber nach einer knappen Woche erreichte die Karawane Side, nach weiteren sechs Tagen Coracesium. Der rege Verkehr, der infolge der politischen Ereignisse auf der Küstenroute herrschte, hielt Wegelagerer und anderes Gesindel fern, und so ging die Reise zügig vonstatten, wie Chaya, die einmal mehr als Diener verkleidet reiste, mit Erleichterung zur Kenntnis nahm. Ihr Vater allerdings traute dem Frieden nicht.

Zwar hatte sich Isaac auf den ersten Blick trefflich von seinem Fieber erholt; wann immer er sich jedoch unbeobachtet wähnte, sank seine schlanke Gestalt, die ob der Entbehrungen noch hagerer geworden war, im Sattel zusammen. Kauernd hockte er dann auf seinem Maultier, ein Zerrbild des Mannes, zu dem Chaya einst aufgeblickt und den sie für seine Willensstärke bewundert hatte, und das machte ihr Angst. Nicht nur, weil der Lebenswille ihres Vaters geschwunden zu sein schien, sondern auch wegen der Bürde, die er trug und die sie nun, da sie das Geheimnis des Buches kannte, unwillkürlich teilte. Um diese Ängste kreisten ihre Gedanken beinahe unaufhörlich, während der alte Isaac stumm neben ihr herritt.

»Vater?«, brach sie irgendwann das Schweigen. Es war später Nachmittag, und sie passierten eine schmale Landzunge, die hinaus ins türkisblaue Meer griff, das sich am Horizont scharf vom Himmel abhob. Die Hitze des Tages hatte bereits nachgelassen. Die Schatten, die ihnen vorauseilten, wurden länger, und eine frische salzige Brise wehte vom Wasser landeinwärts.

»Ja, mein Kind?« Er richtete sich ein wenig im Sattel auf.

»Hast du das geheime Buch je gelesen?«, fragte Chaya so offen und unvermittelt, dass sie fast selbst darüber erschrak. »Kennst du seinen Inhalt?«

Der alte Isaac zuckte zusammen. Verstohlen blickte er nach beiden Seiten und vergewisserte sich, dass die armenischen Kämpfer, die den Zug begleiteten, nichts mitbekommen hatten. »Sprich leiser, ich bitte dich«, sagte er dann. »Unsere muslimischen Freunde mögen behaupten, unsere Sprache nicht zu verstehen, aber man kann niemals ganz sicher sein.«

»Geht das Buch denn auch sie etwas an?«, fragte Chaya erstaunt.

»Was in diesem Buch geschrieben steht, geht jedes Geschöpf auf Erden etwas an, das Volk Israel jedoch in besonderer Weise. Warum erkundigst du dich danach?«

»Weil ich mich bereits die ganze Zeit über frage, ob du weißt, wofür du … wofür wir unser Leben wagen«, gab Chaya zur Antwort. Natürlich entsprach das nicht ganz der Wahrheit – sie hatte das Gespräch auf das Buch gebracht, weil sie das Schweigen nicht mehr ausgehalten hatte und über die Dinge sprechen wollte, die sie beschäftigten. Und weil ihre Schuldgefühle größer wurden, je länger sie ihren Vater unter seiner Verantwortung leiden sah. Würde sie ihm seine Bürde erleichtern, wenn sie ihm gestand, dass auch sie das Geheimnis der Schriftrolle kannte? Oder würde sie ihm zu all den Sorgen, die ihn bereits plagten, noch eine weitere aufbürden?

»Sei versichert, dass ich das sehr wohl weiß, mein Kind«, beschied er ihr nickend, und in seinem Gesicht, das im Schatten des Burnus lag, spiegelte sich etwas wider, das sie gut kannte: das Bewusstsein menschlicher Ohnmacht vor den göttlichen Mysterien.

»Was also werden wir tun, wenn wir Antiochia erreichen?«, fragte sie.

»Wir werden das Buch an Ezra übergeben. Auch ihn hat mein Vater zum Träger ernannt. Er wird wissen, was weiter zu geschehen hat.«

»Und wir?«

Isaac schaute sie an. »Warum fragst du?«

»Nun, unsere Geldmittel sind beinahe aufgezehrt, nicht wahr? Die Behandlungen durch den alexandrinischen Arzt haben den einen Teil unserer Ersparnisse verschlungen, die Reisevorbereitungen den anderen. Was also werden wir tun, wenn wir das Buch übergeben haben? Im Land der Väter bleiben?«

»Wie gerne würde ich das, denn davon träumt jeder treue Sohn Jakobs«, erwiderte Isaac nachdenklich. »Aber dort ist kein Friede, Chaya. Die Welt ist in Aufruhr, in Furcht versetzt von den Fanatikern, die unter dem Banner des Kreuzes ritten. Schon sind die ersten Städte des Morgendlandes gefallen. Wie viele weitere werden folgen? Wird es den Kreuzfahrern tatsächlich gelingen, ins Gelobte Land vorzustoßen, an die Geburtsstätte ihres und unseres Glaubens?«

»Was denkst du, Vater?«

»Ich weiß es nicht, Chaya. Aber die Geschichte ist voller unvorhersehbarer Wendungen. Wer vermag zu sagen, was der Herr für uns alle plant? Nur eines ist gewiss: Das Buch von Ascalon darf nicht in falsche Hände gelangen, weder jetzt noch später – sonst ist die Welt verloren.«

Chaya nickte nachdenklich. Unter dem Eindruck des späten Tages, dessen Licht sich allmählich einzufärben begann und das Meer in goldenen Schein tauchte, überfiel sie tiefe Melancholie. Zum ungezählten Mal dachte sie an das, was der alte Isaac im Fieber gesagt hatte – dass das Weltgericht bevorstünde und das Buch der Schlüssel dazu sei. Inzwischen kannte sie das Geheimnis, und wenn sie auch nicht alles verstanden hatte, so war ihr doch offenbar geworden, dass ihr Vater selbst unter dem Einfluss des hohen Fiebers keinesfalls übertrieben hatte.