»Besteht überhaupt noch Hoffnung?«, stellte sie leise die Frage, die sie insgeheim beschäftigte und die im Grunde hinter allen anderen Sorgen stand.
Sie hatte fast erwartet, dass ihr Vater der Frage ausweichen und sich in beredtes Schweigen hüllen würde, aber das war nicht der Fall. »Hoffnung besteht immer, mein Kind«, sagte er zu Chayas Verblüffung. »So jedenfalls habe ich selbst es erfahren.«
»Inwiefern, Vater?«
Isaac schickte ihr einen unmöglich zu deutenden Blick. »Als wir Köln verließen, war ich voller Furcht und Zweifel. Dem Versprechen folgend, das ich gegeben hatte, musste ich alles hinter mir lassen, doch meine Tochter widersetzte sich meinem Willen. Statt meinem Entschluss zu folgen, begleitete sie mich auf meiner Fahrt ins Ungewisse, und ich gestehe, dass ich darüber mit Gott haderte. Inzwischen jedoch habe ich erkannt, dass er mir in seiner unendlichen Güte und Weisheit einen Begleiter geschickt hat, wie ich ihn mir treuer und besser nicht wünschen könnte.«
»Einen Begleiter?« Chaya brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sie selbst gemeint war. »Dann bist du froh, dass ich hier bin?«
»Nein, meine Tochter.« Er schüttelte den Kopf. »Viel lieber hätte ich dich in Frieden leben sehen, einen jungen Mann heiraten und mit ihm eine Familie gründen, sodass ich mich an meinen Enkeln und Urenkeln hätte erfreuen können. Dies war der Plan, den ich für dich gefasst hatte. Ich habe selbst dann noch daran festgehalten, als die Zeichen der Zeit sich längst geändert hatten – dabei hätte der Tod deiner Mutter mir klarmachen müssen, wie ausgeliefert wir alle dem Schicksal sind und wie abhängig vom Wohlwollen des Herrn. Deshalb – und nur deshalb – halte ich an meiner Mission fest, so verloren sie mir auch erscheinen mag. Gott ist mit uns, Chaya, sonst hätte ich das Fieber nicht bezwingen können. Und je eingehender ich darüber nachdenke, desto überzeugter bin ich, dass er auch dir den Weg gewiesen hat.«
Chaya horchte auf. »Du glaubst, es war meine Bestimmung, dich zu begleiten?«
Isaac erwiderte nichts. Das Lächeln, das über seine ausgezehrten Züge huschte, war Antwort genug.
»Aber wenn du so fühlst, Vater, wenn du der Ansicht bist, dass es Gottes Wille ist, dass ich hier bin, warum weihst du mich dann nicht in das Geheimnis ein? Ich könnte dir helfen, die Bürde zu tragen, und deine Sorgen mit dir teilen.«
»Nicht in diesem Fall, meine Tochter.« Isaac seufzte. »Manche Furcht pflegt sich zu halbieren, wird sie mit jemandem geteilt – diese jedoch würde sich nur verdoppeln. Du würdest ebenso schwer daran tragen wie ich, und das möchte ich dir ersparen.«
»Ich weiß, Vater. Aber …« Chaya biss sich auf die von der Trockenheit rissigen Lippen, suchte nach passenden Worten. Für einen Moment hatte sie gehofft, die Situation zu ihren Gunsten beeinflussen und ihren Vater dazu bringen zu können, ihr das Geheimnis von sich aus zu offenbaren. Doch die ohnehin nur flüchtige Gelegenheit schien bereits wieder verstrichen.
»Gibt es etwas, das du mir zu sagen hast, mein Kind?« Isaac blickte ihr dabei prüfend ins Gesicht.
Chaya schluckte so heftig, dass es in ihrer trockenen Kehle schmerzte. Sollte sie ihrem Vater die Wahrheit sagen?
Ahnte er womöglich bereits etwas?
Hatte sie sich verraten?
Für einen kurzen Augenblick war sie dazu bereit – dann kamen ihr Zweifel und sie wollte die Anerkennung, die ihr Vater ihr soeben hatte zuteilwerden lassen, nicht gleich wieder zunichte machen.
»Nein«, erwiderte sie deshalb kopfschüttelnd. »Was sollte ich dir wohl zu sagen haben?«
11.
Iconium
16. August 1097
Ein Wunder.
Für die meisten Kreuzfahrer stand fest, dass es nichts anderes als ein göttliches Wunder gewesen sein konnte, das den Kreuzfahrern zu Hilfe gekommen war und sie nach sechs Wochen entbehrungsreichen Marsches durch sengende Hitze und lebloses Land gerettet hatte.
Conn sah die Dinge nüchterner, aber auch er kam nicht umhin, erleichtert zu sein, dass die mörderischen Entbehrungen zumindest vorerst ein Ende hatten. Die Kreuzfahrer hatten Iconium erreicht, die alte Stadt im anatolischen Hochland, die den Seldschuken als Zentrum ihrer Macht diente. Deshalb hatten die entkräfteten, von Hunger und Durst gezeichneten Streiter Christi geglaubt, einen blutigen Kampf um den Besitz der Stadt austragen zu müssen – doch diese Annahme hatte sich als falsch erwiesen.
Die Kunde von ihren Siegen bei Nicaea und Dorylaeum war den Kreuzfahrern vorausgeeilt, und so hatte die türkische Garnison die Stadt bereits verlassen, während ihre Bewohner – zum größten Teil armenische Christen – ihre Glaubensbrüder als Befreier willkommen hießen und ihnen bereitwillig die Tore öffneten.
Der Triumph war vollkommen, ohne dass auch nur ein einziger Pfeil abgeschossen oder eine Klinge gekreuzt worden war. Entsprechend groß war der Freudentaumel, in den die Angehörigen des Kreuzfahrerheeres daraufhin verfielen. Überall in den Lagern loderten Feuer, über denen Fleisch gebraten wurde. Bereitwillig hatten die Einwohner von Iconium ihr Vieh geschlachtet und ihre Vorratslager geöffnet, um die ausgehungerten Kreuzfahrer zu versorgen. Die gedrückte Stimmung, die zuletzt wie ein Leichentuch über dem Zug gelegen hatte, schlug innerhalb von nur zwei Tagen in Euphorie um.
Die Prediger, die die Unternehmung begleiteten und während der letzten Wochen zunächst immer leiser geworden und schließlich ganz verstummt waren, ergriffen wieder das Wort und hielten flammende Ansprachen; hier und dort waren sogar Flötenklang und Gesang zu hören, und der Wein, der von freigebigen Iconiern aus langen Schläuchen ausgeschenkt wurde, trug sein Übriges dazu bei, eine Stimmung zu erzeugen, die jene von Rouen noch übertraf. Zwar betrauerte man die Toten, die auf der langen Wegstrecke zurückgeblieben waren und deren Zahl in die Hunderte ging; aber es überwog die Freude, selbst mit dem Leben davongekommen zu sein. Man war überzeugter denn je, mit dem Segen des Allmächtigen zu reisen, der die Kreuzfahrer hart geprüft, sie jedoch für wert befunden hatte, die heiligen Stätten zu befreien.
Auch Conn hatte dem Wein zugesprochen, wenn auch nur mit einigen Schlucken, die auf seinen jeder Flüssigkeit entwöhnten Körper jedoch verheerende Wirkung hatten. Ziellos trat er zwischen Feuern und Zelten umher, die für ihn alle gleich aussahen, und er gestand sich widerstrebend ein, dass er sich im Lager verlaufen hatte. Nirgendwo sah er mehr ein bekanntes Gesicht, von Berengar und den Lothringern, deren Gesellschaft er kurz verlassen hatte, um sich am Rand des Lagers zu erleichtern, keine Spur.
Wohin Conn auch schaute, sah er ausgemergelte, aber glückliche Gesichter, lachend, singend, lallend, das Leben feiernd, das ihnen so unvermittelt wieder geschenkt worden war. Jemand packte ihn am Arm und drehte ihn herum. Ein betrunkener Franke, der einen Krug in den Händen hielt, prostete ihm zu, eine junge Frau sandte ihm auffordernde Blicke, ein Armenier bot ihm großzügig Wein an.
Conn winkte dankend ab und wankte weiter, um seine Suche nach Berengar und den anderen fortzusetzen. Da er keine Ahnung hatte, wohin er sich wenden musste, schlug er jeweils die Richtung ein, die ihm passend erschien – und hatte das Gefühl, sich immer noch tiefer im Labyrinth des nächtlichen Lagers zu verlieren. Lachende Mienen, heiserer Gesang, bratendes Fleisch über lodernden Feuern … Wie feindliche Geschosse prasselten die Eindrücke auf ihn ein und hämmerten gegen seinen Schädel. Verwirrt drehte er sich im Kreis und suchte nach einer Orientierung, nach etwas, woran seine Sinne sich festhalten konnten – als jemand seinen Namen rief.