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Chaya blieb nicht mehr lange genug, um zu hören, wie der Parnes ein Dankgebet sprach und die Versammlung auflöste – was sie betraf, so hatte sie genug erfahren. Auf leisen Sohlen schlich sie von der Galerie und verließ die Synagoge, um noch vor ihrem Vater zu Hause zu sein. Was sie gehört hatte, ließ sie jedoch nicht mehr los.

In vergleichsweise gelöster Stimmung hatten die Ratsmitglieder das Gotteshaus verlassen, augenscheinlich sehr zufrieden mit dem, was erreicht worden war. Lediglich Daniel Bar Levi und Isaac Ben Salomon blieben zurück, und es war offensichtlich, dass sich in ihren faltigen Mienen dieselbe Sorge spiegelte.

»Wie ich sehen kann, mein Freund, teilt Ihr die Erleichterung der anderen nicht«, stellte der Vorsteher der Kölner Gemeinde ohne jede Genugtuung fest. Den Stab in seiner Rechten schien er mehr denn je zu benötigen, so als hätte der Verlauf der Beratung ihn abermals um Jahre altern lassen.

»Nein«, gab Isaac zu. »Denn anders als Mordechai habe ich Zweifel, was die guten Absichten jener fremden Krieger betrifft. Und ich fürchte, dass Fasten allein sie nicht fernhalten wird.«

»Auch ich hege diese Zweifel«, pflichtete der Vorsteher bei, »doch wie du gesehen hast, wollte sie niemand hören. Die Mehrheit unserer Brüder zieht es vor zu glauben, dass stets alles so bleiben wird, wie es gewesen ist.«

»Nur ein Narr denkt so«, sagte Isaac bitter.

»Mein Freund«, erwiderte Bar Levi und legte mitfühlend eine Hand auf seine Schulter, »ich weiß, dass es der erlittene Verlust ist, der Euch so sprechen lässt, denn noch vor einiger Zeit wähntet auch Ihr Euch sicher und behütet, ehe der Tod Eures Weibes Euch aus diesem Traum erwachen ließ. Nicht Narrheit, sondern die menschliche Natur ist es, die unsere Brüder so sprechen lässt. Mit aller Macht klammern sie sich an das, was Gottes Gunst und ihrer Hände Arbeit ihnen eingetragen haben, und wiegen sich in vermeintlicher Sicherheit. Doch das Gedächtnis unseres Volkes reicht weit in die Vergangenheit, und wenn die Erfahrung uns eines lehrt, dann dass es immer wieder Zeiten gab, da wir alles verloren. Man hat uns versklavt und unterjocht, uns aus der alten Heimat vertrieben und in die Fremde geschickt.«

»Und Ihr fürchtet, es könnte wieder so werden?«, fragte Isaac leise, fast flüsternd.

Ein Lächeln glitt über die Züge des Vorstehers, aller Sorge zum Trotz. »Wer weiß zu sagen, was Gott plant? Aber wenn es so ist, darf uns der Feind nicht unvorbereitet finden wie einst. Wenn der dunkle Schatten sich über uns breitet, so müssen wir handeln. Versteht Ihr, was ich meine?«

Isaacs von Trauerfalten durchfurchte Züge wurden noch finsterer, als der Parnes ihn an das Versprechen erinnerte, das er vor langer Zeit gegeben hatte. Freilich war er in jenen Tagen noch ein anderer gewesen, unbelastet von Sorge und bar der Erfahrungen, die er seither gemacht und die sein Leben geprägt hatten.

Doch das Wort, das er gegeben hatte, band ihn heute wie damals, auch wenn sich alles in ihm dagegen wehrte und er sich nicht vorstellen konnte, dass …

»Ich verstehe, Rabbi«, hörte er sich selbst sagen, und mehr noch als an allen anderen Tagen, die seit ihrem Tod vergangen waren, wünschte er sich seine Frau zurück.

3.

»Nia? Wo bist du?«

Conn blickte sich suchend um. Er schlich durch den Wald, der sich nordöstlich der Stadtmauern erstreckte, ein grünes Dickicht aus Buchen, Eschen und uralten Eichen, zwischen denen Beerensträucher und üppiger Farn gediehen. Schäfte von honigfarbenem Sonnenlicht fielen durch das grüne Blätterdach, tauchten den Wald in lieblichen Schein und machten die Nähe der lärmenden, betriebsamen, aus allen Poren stinkenden Stadt beinahe vergessen. Nur das Summen der Bienen war zu hören und von fern das Klopfen eines Spechts. Von Nia jedoch fehlte jede Spur, sodass Conn nichts übrigblieb, als abermals ihren Namen zu rufen, wenn auch nur halblaut und verstohlen.

»Nia?«

Erneut bekam er keine Antwort, und ihn befiel jähe Enttäuschung. Natürlich konnte es sein, dass sie woanders hingeschickt worden war, aber für gewöhnlich war dies der Tag, an dem sie die Burg verlassen durfte, um im Wald Kräuter zu sammeln, und es war die Stunde, die sie beide die ganze Woche über herbeisehnten.

Auf einer kleinen Lichtung blieb Conn stehen und schaute sich abermals suchend um. Als er noch einmal Nias Namen rief, konnte er plötzlich ein leises Kichern hören und einer der großen Farnbüsche, die die Lichtung wie ein grüner Wall umgaben, regte sich verdächtig.

»Nia?« In einer Mischung aus Ärger und Erleichterung verdrehte Conn die Augen. »Sag, dass das nicht wahr ist!«

Das Kichern wurde zu ausgelassenem Gelächter, und aus dem dichten Gewirr der Farnblätter tauchte ein Gesicht auf, das schöner war als alles, was Conn sich auf Erden vorzustellen vermochte.

Ebenmäßige Züge mit geröteten Wangen und einer kleinen, keck hervorspringenden Nase, darunter ein herzförmiger Mund mit rosigen Lippen und ein schmales, vielleicht ein wenig zu spitz geratenes Kinn, das ihrer Schönheit aber keinen Abbruch tat. Glattes kastanienfarbenes Haar, das ihr bis auf die Schultern fiel, umrahmte Nias Gesicht. Ihre braunen Augen, deren Lebenslust und Heiterkeit ansteckend war, leuchteten wie Sterne in einer klaren Sommernacht.

Conn konnte nicht anders, als von diesem Anblick verzaubert zu sein. Er lächelte und breitete die Arme aus, worauf sie ihr Versteck verließ und zu ihm eilte. Sie umarmten sich innig, und er genoss es, ihre schlanke Gestalt an sich zu pressen, ehe sich ihre Lippen in einem langen Kuss begegneten.

»Du hast mich vermisst«, stellte sie lächelnd fest, als sie sich wieder voneinander trennten. Ihr fremder Akzent war unüberhörbar – nur eines der vielen kleinen Dinge, die er an ihr liebte.

»Was bringt dich denn auf den Gedanken?«

»Ich habe dein Gesicht gesehen. Du hattest Angst, ich könnte nicht gekommen sein.«

»Unsinn.« Conn schüttelte den Kopf.

»Du konntest den Gedanken, mich eine weitere Woche lang nicht zu sehen, nicht ertragen«, beharrte sie.

»Von wegen«, widersprach Conn, der ihr den Triumph nicht gönnen wollte. »Ich wäre einfach zurück in die Stadt gegangen und nächste Woche wiedergekommen.«

»Du lügst. In Wahrheit denkst du in jedem Augenblick an mich, und die Vorstellung, mich eine ganze Woche lang nicht zu sehen, ist dir unerträglich, nicht wahr? So jedenfalls«, fügte sie leiser hinzu, »geht es mir.«

Statt etwas zu erwidern, zog er sie abermals an sich und küsste sie. Das Glück, das er in diesem Augenblick empfand, machte alle Gefahr und alles Elend um sie herum vergessen – bis ein erneutes Rascheln im Gebüsch ihre Ruhe störte.

Conn fuhr herum und sah ein weiteres Frauengesicht aus dem Farn auftauchen, blasser und herber und – zumindest in seinen Augen – nicht annähernd so schön wie Nias. Es gehörte Emma, ihrer Aufseherin und wahrscheinlich der einzigen Freundin, die sie auf Erden hatte.

»Pst, ihr beiden«, sagte die Magd, die anders als Nia kein Eisen um den Hals trug. »Ich störe euch nur ungern, aber ihr solltet euch vorsehen. Wenn de Bracy euch entdeckt …«

»De Bracy ist weit weg«, entgegnete Conn geringschätzig.

»Außerdem wird in der Burg Besuch erwartet, wie du weißt«, fügte Nia feixend hinzu, »da hat er sicher anderes zu tun, als nach den Leibeigenen zu sehen.«

»Wie ihr meint.« Emma schnitt eine Grimasse. »Aber treibt es nicht zu bunt, ihr beiden, hört ihr?«