»Gräme dich nicht, meine Tochter«, sagte er, als er ihre Tränen bemerkte, »denn siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist vorbei, die Blumen zeigen sich im Lande …«
Trotz ihrer Trauer und Verzweiflung musste Chaya lächeln, als sie ihn jenen Satz aus dem Hohelied Salomons rezitieren hörte, der die Lieblingsstelle ihrer Mutter gewesen war. Noch einmal bäumte sich der Körper des alten Isaac auf, so als wollte er sich dem Unausweichlichen widersetzen. Dann jedoch entkrampften sich seine Züge und wurden ruhig.
»Adonai segne und behüte dich, meine Tochter und Erbin«, flüsterte er so leise, dass sie ihn kaum noch hören konnte. »Er wende sein Angesicht dir zu und gebe dir …« Er verstummte und blickte suchend umher, so als wäre ihm plötzlich entfallen, was er hatte sagen wollen. Doch er behielt die Herrschaft über seinen Geist, schien den Satz unbedingt zu Ende bringen zu wollen.
»Adonai … gebe dir Frieden, mein Kind«, hauchte er.
Noch einmal schien sein fliehender Blick sie zu erfassen, und etwas wie ein Lächeln spielte um die dünnen Lippen des alten Kaufmanns. Dann wurden seine Augen glasig, und Chaya brach über dem Leichnam ihres Vaters zusammen.
Es war nicht Schmerz allein, der sie überwältigte, nicht die Trauer oder die Furcht vor dem, was vor ihr lag, sondern auch ohnmächtige Wut, der Zorn darüber, dass alles vergeblich gewesen war. Wozu hatte ihr Vater die alte Heimat verlassen, wozu solche Beschwernisse auf sich genommen, wozu all seine Zweifel überwunden, seine Angst und selbst die Abgründe des Fieberwahns, wenn er nun so kurz vor dem ersehnten Ziel einen grausamen Tod starb, hingemetzelt von der Hand eines namenlosen Mörders?
Ungehemmt schossen die Tränen aus ihren Augen, während sie sich an den leblosen Körper klammerte, weder bereit noch willens, ihn loszulassen. Es war ihr gleichgültig, ob andere sie so sahen oder ob sie ihre Tarnung damit gefährdete. Die Trauer war in ihr und ließ sich nicht aufhalten, brach sich Bahn wie ein Regenguss nach langer Dürre. Wie lange sie so verharrte, wusste sie nicht zu sagen, jedes Gefühl für Zeit kam ihr abhanden.
Bis irgendwann ein Schatten auf sie fiel.
Der Sand neben ihr knirschte, und ihr wurde klar, dass jemand zu ihr getreten war. Widerstrebend löste sie sich vom Leichnam des alten Isaac und schaute mit tränenverschwommenem Blick an dem Fremden empor. Sie konnte nur seine Silhouette sehen, sah den Schwertgriff an seiner Seite und den Helm, den er abgenommen hatte und unter dem Arm trug. Der heiße Wind verwehte sein Haar, und obschon sie sein Gesicht im Gegenlicht nicht sehen konnte, hatte Isaac Ben Salomons Tochter das Gefühl, diesen Mann zu kennen.
»Chaya«, sagte er in diesem Augenblick, »seid Ihr das?«
13.
In einer schmalen Senke, die von Felsen umgeben war und im Fall eines weiteren Angriffs gut zu verteidigen sein würde, hatten sie ihr Nachtlager aufgeschlagen – nicht nur die Kämpfer von Baldrics Spähtrupp, sondern auch die Reisenden der syrischen Karawane.
Den Kaufleuten war anzusehen gewesen, dass sie den Kreuzfahrern nicht über den Weg trauten, aber da ihre Furcht vor einem neuerlichen Überfall noch ungleich größer gewesen war, hatten sie eingewilligt, die Nacht in ihrer Obhut zu verbringen. Und Baldric wiederum hatte alles daran gesetzt, das von seinen Waffenbrüdern begangene Unrecht wiedergutzumachen und zu demonstrieren, dass nicht alle Streiter Christi blutrünstige Räuber waren.
Von den zwanzig Kämpfern, die seinem Trupp noch angehörten, ließ er jeweils zehn das Lager bewachen, um Mitternacht würde die Ablösung erfolgen. Das Kommando der ersten Wache übertrug er Bertrand, in der zweiten Nachthälfte würde Remy den Oberbefehl führen, auch Conn würde dieser Schicht angehören. Die meisten Männer nutzten die Zeit bis zum Wachantritt, um nach den Anstrengungen des Tages noch etwas Schlaf zu bekommen; Conn jedoch fand keine Ruhe.
Zu sehr beschäftigten ihn die Ereignisse des vergangenen Tages, zu lebhaft stand ihm der Tod des alten Isaac vor Augen; und zu überwältigt war er von der Macht des Geschicks, das ihn nach all den Monaten inmitten fernster Fremde wieder mit jener jungen Frau zusammengeführt hatte, der er die Rettung seines Armes und womöglich auch seines Lebens verdankte.
Irgendwann – bis Mitternacht mochte es noch eine Stunde sein – hielt er es nicht mehr auf seinem Lager aus. Conn verließ den Unterstand, den er sich mit Berengar und dem schnarchenden Remy teilte, und suchte jenen Teil der Senke auf, wo die Karawane ihre Zelte aufgeschlagen hatte. Chayas Behausung zu finden war nicht weiter schwierig – sie war kleiner als jene der Syrer und unbewacht. Ohne Verwunderung nahm Conn zur Kenntnis, dass noch Licht darin brannte.
Vorsichtig näherte er sich dem Zelt, wobei er sich keine Mühe gab, leise zu sein. Ein morscher Zweig, auf den er trat, knackte geräuschvoll, worauf eine Stimme aus dem Inneren drang und in einer fremden Sprache etwas fragte.
Conn erkannte Chayas Stimme kaum wieder. Nicht nur, weil sie den männlichen Besitzer vorzugaukeln suchte, sondern auch, weil sie brüchig und halb erstickt von Tränen war.
»Ich bin es«, sagte er leise. »Conwulf. Darf ich eintreten?«
Es gab keine Zustimmung, aber auch keinen Widerspruch, also fasste er sich ein Herz, schlug die Decke vor dem Eingang beiseite, bückte sich und trat ein. Das Innere des Zeltes, das gerade groß genug war, um zwei Menschen Platz zu bieten, wurde von einer spärlichen, von Öl genährten Flamme beleuchtet. Zwei Decken lagen auf dem Boden. Die eine war noch zusammengerollt. Auf der anderen kauerte Chaya, in sich zusammengesunken und das Gesicht in den Handflächen vergraben.
Sie so zu sehen versetzte Conn einen schmerzhaften Stich. Dennoch wagte er nicht, sich zu ihr zu setzen und sie zu trösten. Stattdessen ließ er sich einfach nur am Zelteingang nieder und wartete. Augenblicke verstrichen, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen. Obwohl er Chaya kaum kannte, obwohl er nichts über sie wusste und sie noch nicht einmal denselben Glauben teilten, brachte es ihn halb um, sie derart leiden zu sehen. Ein himmelschreiendes Unrecht war geschehen, das ihren Vater das Leben gekostet hatte, und alles in ihm verlangte danach, ihr zu sagen, wie sehr er mit ihr fühlte und wie genau er wusste, welchen Schmerz sie empfand.
Aber konnte er das?
Conn war weder ein Denker wie Baldric, noch verfügte er über Bertrands Redefluss. Musste er mit allem, was er sagte, nicht fürchten, Chaya noch mehr zu verletzen und ihren Schmerz zu vergrößern? Er schwieg lieber und wartete, lauschte ihrem leisen Wimmern. Conn ahnte, wie einsam sie sich fühlen musste, wie verloren und verlassen – und auch das konnte er ihr wohl besser nachfühlen als jeder andere im Lager.
Irgendwann fragte er sich, ob sie seine Anwesenheit überhaupt bewusst zur Kenntnis genommen hatte. Er wollte ihre Trauer nicht stören, sie aber auch nicht alleinlassen in ihrem Schmerz. Obwohl – was konnte er schon tun, außer dazusitzen, angewurzelt und stumm wie ein Stück Holz?
»Wir … wir mussten ihn begraben«, brach Chaya plötzlich ihr Schweigen. Ihr Antlitz hielt sie gesenkt und mit den Händen bedeckt, so als schämte sie sich ihrer Tränen. »Noch am Abend. Wegen der Hitze … und der Tiere.«
»Ich weiß«, sagte Conn beklommen. Er hatte selbst dabei geholfen, die Grube auszuheben, in die die Opfer des Überfalls gelegt worden waren, unter ihnen auch der alte Isaac, aber natürlich hatte sie in ihrem Schmerz davon nichts mitbekommen. Im Gegenteil hatte sie nach ihrem ersten Zusammenbruch alles darangesetzt, den Schein zu wahren und wieder die Rolle des Dieners zu spielen. Eines Dieners freilich, der seinen Herrn verloren hatte.
Conn wünschte sich, ein wenig von Berengars Gabe zu besitzen, in jedweder Situation den treffenden Ton zu finden. Hingegen kam ihm alles, was er selbst hervorbrachte, plump und bäuerisch vor. Wie konnte er hoffen, Chaya Trost zuzusprechen, wenn er nach Worten tasten musste wie ein Blinder nach dem Weg?