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»In unserem Glauben«, fuhr sie schluchzend fort, »warten wir gewöhnlich drei Tage, bis wir die Toten bestatten. Aus Respekt. Und auch um ihrer Seelen willen.«

»Auch wir Christen halten es so«, sagte Conn. »Meistens jedenfalls«, fügte er in Erinnerung an Tostig und all die armen Teufel hinzu, die auf der Henkersweide von London ein unrühmliches Ende gefunden und die man noch am selben Tag verscharrt hatte.

Zum ersten Mal regte sich Chaya. Schließlich hob sie den Kopf und schaute auf. Ihre Züge, die seit ihrer Begegnung in Genua noch schmaler geworden waren, waren gerötet, ebenso wie ihre Augen, um die sich dunkle Ränder gebildet hatten. Der Fluss ihrer Tränen schien zu stocken. Womöglich, dachte Conn, hatte sie jenen dunklen Ort erreicht, der jenseits des Schmerzes und der Trauer lag und an dem selbst die Tränen versiegten. Auch er war dort gewesen.

»Conwulf«, hauchte sie.

»Ja?«

»Ich habe Euch noch nicht gedankt.«

»Das braucht Ihr nicht«, entgegnete er und hob demonstrativ die linke Hand. »Auch Ihr habt mich gerettet, wisst Ihr nicht mehr? Und anders als ich seid Ihr nicht zu spät gekommen«, fügte er hinzu und blickte zu Boden. Er brachte es nicht fertig, ihr weiter in die Augen zu schauen, schuldig, wie er sich fühlte.

Chaya nickte, und trotz ihres Schmerzes brachte sie ein sanftes Lächeln zustande. »Dennoch möchte ich mich Euch erkenntlich zeigen«, sagte sie, griff unter die Falten des gestreiften Überwurfs, den sie als Diener des alten Isaac zu tragen pflegte, und zog etwas hervor, das sie Conn entgegenhielt.

Es war eine Halskette, aus Silber gefertigt und mit bunten Edelsteinen besetzt, die kunstvoll eingefasst waren. Conn kannte ihre Namen nicht, aber er nahm an, dass sie von beträchtlichem Wert sein mussten. Als Dieb in den Straßen Londons hätte er fraglos zugegriffen, in diesem Augenblick jedoch überwog seine Überraschung.

»Was ist das?«, wollte er wissen.

»Die Halskette meiner Mutter. Sie ist alles, was mir von ihr geblieben ist. Ich wollte sie nicht zurücklassen, deshalb nahm ich sie mit, als wir die Heimat verließen. Ich ahnte immer, dass sie einem besonderen Zweck dienen würde.«

»Und nun wollt Ihr sie mir geben?«, fragte Conn zweifelnd.

»Zum Zeichen meines Dankes. Auch mein Vater hätte gewollt, dass Ihr sie bekommt.« Wieder rannen Tränen über ihre zarten Wangen.

Er räusperte sich und suchte verzweifelt nach den richtigen Worten. »Chaya, bitte steckt sie wieder ein.«

»Warum?«

»Weil ich das Erbstück Eurer Mutter niemals von Euch annehmen könnte, ohne dabei vor Scham zu erröten.«

»So sehr beschämt es Euch, ein Geschenk von einer Jüdin anzunehmen?«, fragte sie. Ihre Gesichtszüge wurden noch trauriger, während sie die Hand mit der Kette sinken ließ. »Natürlich, ich hätte es wissen müssen. Verzeiht einer armen Närrin, Conwulf …«

»Was?« Er starrte sie verständnislos an, während sein Verstand stolpernd Schritt zu halten versuchte. »Aber nein«, versicherte er rasch, »Ihr versteht nicht, Chaya.«

»Was gibt es daran nicht zu verstehen?«

»Ich lehne Euer Geschenk nicht ab, weil Ihr jüdischen Glaubens seid, sondern weil es nicht recht wäre, es anzunehmen. Waren es nicht Kreuzfahrer, die Euch überfallen und Euren Vater getötet haben?«, fragte er und deutete auf das Zeichen auf seiner eigenen Schulter. »Kreuzfahrer, wie ich selbst einer bin? Und bin ich nicht zu spät gekommen, um dieses Unrecht zu verhindern?«

»Dennoch gebührt Euch mein Dank«, beharrte sie.

»Den habt Ihr mir bereits übermittelt. Wenn Ihr mir darüber hinaus noch danken wollt, dann fasst Euch wieder, denn es ist schrecklich, Euch so zu sehen. Ich weiß, wie schwer der Verlust wiegt, den Ihr erlitten habt, aber …«

»Wie könnt Ihr das wissen?«, fiel sie ihm ins Wort. »Habt Ihr meinen Vater gekannt? Habt Ihr eine Ahnung von dem Schmerz, den ich empfinde? Von der Bürde, die er mir hinterlässt?«

Conn sah Zorn in ihren von Tränen geröteten Augen blitzen – oder vielleicht war es auch nur die nackte Verzweiflung. »Nein«, gab er zu, »das habe ich nicht. Aber ich weiß genau, was es bedeutet, einen geliebten Menschen zu verlieren. Dabei zu sein, wenn er durch Mörderhand aus dem Leben gerissen wird, seinen sterbenden Körper bis zuletzt in den Armen zu halten und zu fühlen, wie …«

Seine Stimme war zuletzt immer dünner geworden, bis sie schließlich ganz abbrach. Mit aller Kraft kämpfte Conn gegen die Tränen an, die ihm in die Augen steigen wollten. Als es ihm nicht gelang, sprang er auf und wollte das Zelt verlassen.

»Conwulf!«, rief Chaya.

»Ja?« Er verharrte halb gebückt im Eingang.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie. »Ich hatte kein Recht, so etwas zu sagen. Ich kenne Euch ebenso wenig, wie Ihr mich kennt.«

Er schloss die Augen.

Die Tränen brannten heiß darin. Ein Teil von ihm wäre am liebsten hinausgerannt in die Nacht, um den Gefühlen zu entgehen, die er hinter sich zu haben glaubte. Ein anderer Teil jedoch wollte, dass er blieb – und dieser Teil war stärker. Conn kehrte um und ließ sich wieder nieder.

»Danke«, sagte Chaya sanft.

»Was werdet Ihr nun tun? Wohin wollt Ihr gehen?«

»Das Ziel unserer Reise ist Antiochia gewesen. Ich habe einen Onkel dort, den ich allerdings kaum kenne. Er ging ins Land der Väter, als ich noch ein kleines Mädchen war.«

»Und dorthin wollt Ihr?«

»Es sind meine nächsten Verwandten.« Sie zögerte einen Moment, ehe sie fortfuhr. »Außerdem gibt es etwas, das sich im Besitz meines Vaters befand und das ich meinem Onkel übergeben muss.«

»Sprecht Ihr von jenem Gegenstand, den Euer Vater Euch gab, bevor er …?« Conn biss sich auf die Lippen. Chayas entsetzter Blick machte ihm klar, dass er besser geschwiegen hätte, und er verwünschte sich für seine vorlaute Zunge.

»Warum wollt Ihr das wissen?«, erkundigte sie sich. Unverhohlenes Misstrauen gesellte sich zu ihrer Trauer.

»Aus keinem bestimmten Grund«, beeilte sich Conn zu versichern. »Ich wollte Euch keinesfalls verletzen oder …«

»Schon gut.« Ihre schmerzgezeichneten Züge entspannten sich ein wenig. »Verzeiht meine Vorsicht. Aber jener Gegenstand war für meinen Vater von großer Wichtigkeit, also ist er es auch für mich.«

»Das verstehe ich«, antwortete Conn. »Aber ich muss Euch warnen. Auch das Heer der Kreuzfahrer ist auf dem Weg nach Antiochien, und wenn es dort eintrifft …«

Er überließ es ihrer Vorstellungskraft, sich auszumalen, was geschehen würde, wenn das christliche Heer die Stadt am Orontes erreichte. Der Blick ihrer Augen verriet, dass sie genau wusste, wovon er sprach. »Dennoch muss ich dorthin«, beharrte sie.

»Wie wollt Ihr das bewerkstelligen? Es ist noch ein weiter Weg, wie Ihr wisst, und Ihr seid jetzt ganz auf Euch gestellt.«

»Glaubt Ihr, das wüsste ich nicht?« Ihre Stimme wurde wieder brüchig. »Ich bin ein Diener, der seinen Herrn verloren hat, und da die lange Reise unser Vermögen aufgezehrt hat, bin ich mittellos, entsprechend wird man mich behandeln. Wenn ich Glück habe und meine Tarnung fortbesteht, wird man mir vielleicht gestatten, mich als Kameltreiber zu verdingen. Wenn nicht …«

Conn nickte. Wenn man herausfand, dass sie eine Frau war, die noch dazu allein reiste, würde sie Antiochia vermutlich nie zu sehen bekommen, sondern auf dem Sklavenmarkt von Alexandretta oder Marash enden. »Ihr dürft nicht gehen«, sagte er deshalb schnell.

»Was soll ich stattdessen tun?«

»Kommt mit uns. Im Lager der Kreuzfahrer sind Frauen, die sich Eurer annehmen werden.«

»Ist das Euer Ernst?« Leiser Spott schwang in ihrer Stimme mit. »Ich soll mit Euch kommen in das Lager derer, die meinen Vater ermordet haben? Wie sicher wäre ich wohl dort?«