»Jedenfalls sehr viel sicherer als hier. Immerhin bräuchtet Ihr Euch nicht zu verstellen.«
»Glaubt Ihr das wirklich?« Sie schaute ihn zweifelnd an. »Wisst Ihr, warum mein Vater und ich die alte Heimat verlassen haben, Conwulf? Weil wir dort unseres Glaubens wegen ausgegrenzt, verfolgt und sogar mit dem Tod bedroht wurden – und wollt Ihr behaupten, diese dunklen Schatten wären uns nicht bis hierher gefolgt? Sicher wäre ich unter Euresgleichen doch nur, solange niemand wüsste, dass ich eine Jüdin bin. Mein Geschlecht bräuchte ich vielleicht nicht zu verbergen, wohl aber meine Religion. Folglich müsste ich mich auch unter Euresgleichen unentwegt vor Entdeckung fürchten, und es wäre nichts gewonnen.«
»Dennoch wärt Ihr nicht allein.«
»Würdet Ihr Euch für mich einsetzen, wenn ich entlarvt würde und von allen angefeindet?« Ihre geröteten Augen musterten ihn aufmerksam. »Ja«, sagte sie dann, »ich glaube, das würdet Ihr. Dennoch darf ich Euer Angebot nicht annehmen, Conwulf. Die Liebe zu meinem Vater gebietet es mir, den Auftrag zu Ende zu bringen, den er mir erteilt hat.«
»Euer Vater ist tot, Chaya. Ihr jedoch seid noch am Leben.«
»Und wenn dieses Leben einen Sinn haben und Gottes Gefallen finden soll, so muss ich zu Ende bringen, was mein Vater begonnen hat.«
»Und wenn ich es nicht erlaube?«
Chaya schaute ihn befremdet an. »Wollt Ihr es mir verbieten?« Sie presste die Handwurzeln aneinander und streckte ihm die Arme entgegen. »Dann müsst Ihr mich fesseln und als Gefangene in Euer Lager schleppen.«
»Ihr wisst, dass ich das niemals tun würde.« Conn schüttelte den Kopf, allein die Vorstellung widerte ihn an. »Aber ich kann mir nicht denken, dass es im Sinn Eures Vaters wäre, wenn Ihr Euch derart in Gefahr begebt.«
»Mein Vater, Conwulf, hätte alles getan, um jenen Gegenstand nach Antiochia zu bringen. Sogar sein Leben hat er dafür geopfert!«
»Aber nicht das Eure«, widersprach Conn entschieden. »Allein und ohne Schutz habt Ihr nicht die geringste Chance, Antiochia lebend zu erreichen. Und wenn es Euch doch gelingt, seid Ihr in einer Stadt, die vermutlich dem Untergang geweiht ist.«
»Dennoch muss ich es versuchen, denn ich habe es meinem Vater versprochen. Wisst Ihr, wie es ist, einem Sterbenden in die Augen zu sehen und seinen letzten Willen aufgetragen zu bekommen, Conwulf? Wisst Ihr das?«
Seufzend ließ Conn Kopf und Schultern sinken.
Er wusste es.
Und er gab es auf, Chaya ihr waghalsiges Vorhaben ausreden zu wollen. Er konnte sehen, wie verpflichtet sie sich ihrem Vater noch immer fühlte und dass Argumente sie nicht überzeugen würden.
»Männer«, fügte sie hinzu, leiser jetzt und sanfter, »führen oft das Wort Ehre im Mund, wenn es darum geht, ihre Taten zu rechtfertigen. Aber was ist mit der Ehre einer Frau? Gilt ein Versprechen, das eine Frau gegeben hat, nichts in Euren Augen?«
Conn erwiderte nichts, aber er nickte als Zeichen, dass er verstanden hatte und ihre Entscheidung akzeptierte, auch wenn sie ihm nicht gefiel.
Ein Ruf erklang von draußen – die Wachschicht wurde gewechselt.
Conn erhob sich und verabschiedete sich von Chaya mit einem knappen Nicken. Dann verließ er ihr Zelt.
Weder bemerkte er den Schatten, der hinter der gedrungenen Behausung kauerte, noch ahnte er, dass ihr Gespräch belauscht worden war.
»Nein, nein und nochmals nein! Warum kannst du nicht hören, was ich sage? Hat der Allmächtige dir keine Ohren gegeben?«
Die Sonne war aufgegangen und ließ die die Senke umgebenden Felsen wie die Gemmen einer Krone erstrahlen. In Baldrics Züge jedoch drang keine Helligkeit. Düster hatten sie sich zusammengezogen, das eine Auge starrte Conn finster an.
»Ich höre, was du sagst«, versicherte dieser. »Aber ich bitte dich auch, mich anzuhören.«
»Wozu?«, schnaubte Baldric ungerührt. »Was du sagst, ergibt keinen Sinn! Warum willst du den Diener des ermordeten Kaufmanns unbedingt nach Antiochia begleiten?«
Conn schaute betreten zu Boden. Der Plan, Chaya auf ihrer gefahrvollen Reise zu begleiten, war während der zweiten Nachthälfte in seinem Kopf gereift, während er auf einem der Felsblöcke gestanden und in die von Mondlicht beschienene Ebene geblickt hatte. Fieberhaft hatte er darüber nachgedacht, was er tun, was er unternehmen konnte, um die Jüdin vor Schaden zu bewahren. Gegen Morgen, als der neue Tag bereits heraufdämmerte, war ihm die Lösung eingefallen. Vorausgesetzt, es gelang ihm, seinen Adoptivvater und Vorgesetzten von der Notwendigkeit dieses Schrittes zu überzeugen.
»Weil ich in Ilans Schuld stehe. Er war es, der in Genua meine Hand gerettet hat.«
»Und dafür hast du ihm das Leben gerettet, damals ebenso wie am gestrigen Tag.«
»Das sehe ich ebenso«, pflichtete Bertrand bei, der ebenfalls dabeistand, die Haare wirr wie immer. »Du hast deine Schuld mehr als beglichen, mein Freund.«
Conn seufzte und schüttelte den Kopf. Ihm dämmerte, dass nur die Wahrheit Baldric überzeugen konnte. »Isaac Ben Salomons Diener ist eine Frau«, sagte er leise.
»Was?«, fragten Baldric und Bertrand wie aus einem Munde.
»Ihr Name ist Chaya, und sie ist Ben Salomons Tochter«, fuhr Conn mit gedämpfter Stimme fort. Die Soldaten des Spähtrupps, die in einiger Entfernung ihre Pferde sattelten und sich bereit zum Aufbruch machten, brauchten dies nicht zu hören. »Sie reist als Mann verkleidet, um sich zu schützen.«
»Wie lange weißt du das schon?«, wollte Baldric wissen.
»Seit Genua.«
»Und du hast nichts gesagt?«
»War es denn von Belang?«
»Vermutlich nicht«, schnaubte der Normanne, »aber nun ist es von Belang, denn ein Krieger von Ehre ist verpflichtet, wehrlose Frauen und Kinder zu schützen …«
»… und deshalb muss ich Chaya nach Antiochien begleiten«, kam Conn auf sein ursprüngliches Anliegen zurück.
»Warum ausgerechnet Antiochia?«, wollte Bertrand wissen, dem die Sache ebenfalls nicht zu gefallen schien.
»Weil sie dort Verwandte hat«, erwiderte Conn. »Und weil es etwas gibt, das sie dem Bruder ihres Vaters übergeben muss.«
»Und danach?«
»Werde ich zurückkehren und mich erneut dem Heer Christi anschließen. Bitte zwing mich nicht dazu, ohne deine Erlaubnis zu gehen.«
»Das würdest du tun?«, fragte Baldric mit hochgezogener Braue.
»Ja«, antwortete Conn ohne Zögern, worauf Bertrand ein leises Kichern vernehmen ließ.
»Oha! Ich fürchte, unser angelsächsischer Freund wurde einmal mehr von einem Pfeil getroffen. Diesmal allerdings kam er von Amors Bogen.«
»Was soll das heißen?«, fragte Conn, der die Anspielung nicht verstand.
»Liebst du diese Jüdin?«, drückte Baldric es weniger poetisch, dafür aber umso deutlicher aus.
»Nein!«, widersprach Conn voller Entrüstung. »Ich bin nur der Ansicht, dass wir ihr das schuldig sind. Schließlich waren es unsere Leute, die ihren Vater getötet haben. Und sagtest du nicht selbst, Baldric, dass jeder von uns etwas zu sühnen hat?«
»Das ist wahr.« Der Normanne nickte. »Aber Antiochien ist weit, Junge. Ich habe dich schon einmal verloren, und ich möchte nicht, dass es wieder geschieht. Du magst gelernt haben, zu reiten und ein Schwert halbwegs zu gebrauchen, aber das macht dich noch längst nicht zum Ritter. Und dort im Süden ist Feindesland, das von Heiden bevölkert wird, deren Sprache du noch nicht einmal verstehst …«
»Darf ich etwas dazu sagen, Herr?«, brachte sich zum ersten Mal Berengar ein, der schweigend neben Conn gestanden und den Wortwechsel verfolgt hatte. Als Einzigen hatte Conn ihn schon vorab in seinen Plan sowie in Chayas wahre Identität eingeweiht, und der Mönch war es gewesen, der ihm dringend geraten hatte, sich Baldrics Erlaubnis und Segen einzuholen.
»Was wollt Ihr?«
»Ich möchte Euch raten, Conwulfs Ersuchen nachzugeben«, erwiderte der Mönch. Gelassenheit sprach aus seinen blassen Zügen und den kleinen Augen, die auch auf Baldric überzugreifen schien.