Bahram wappnete sich innerlich. Er hatte Gerüchte gehört, sie jedoch nicht wahrhaben wollen. Wohl weil er geahnt hatte, was sie für ihn bedeuteten …
»Wie zu hören ist, hat sich das Heer der Kreuzfahrer, wie sie sich nennen, inzwischen getrennt«, fuhr der Emir in seiner Rede fort. Jedes Wort erweckte den Anschein, genau ausgewählt worden zu sein. »Ein kleiner Teil hat es vorgezogen, den direkten Weg durch die kilikische Pforte zu nehmen und nach Tarsus vorzustoßen, dessen Bewohner ihnen bereitwillig die Tore geöffnet haben, nachdem des Sultans Soldaten die Stadt über Nacht verlassen hatten.«
»Das ist Verrat, mein Fürst«, warf Bahram ein.
»Wie erfreulich, dass wir uns darüber einig sind, mein guter Armenier«, entgegnete Duqaq, wobei sein Augenspiel unmöglich zu deuten war. »Der größere Teil des Frankenheeres indes ist weiter nach Caesarea gezogen, das sich ebenfalls kampflos ergeben hat. Von dort haben sie vor wenigen Wochen die Pässe nach Süden überwunden.«
»Um diese Jahreszeit? Dann sind die Franken ebenso barbarisch wie töricht.«
»Sie wissen über dieses Land genauso wenig, wie sie über uns wissen. Der Marsch über das Gebirge war beschwerlich. Viele, die zu schwach dazu waren, mussten zurückgelassen werden, und der einsetzende Winter im Gebirge hat viele weitere das Leben gekostet, die des Nachts erfroren sind oder von dunklen Klüften verschlungen wurden. Aber ihre Streitmacht besteht noch immer, denn sie sind zahlreich wie die Sterne, und ihr Vormarsch geht weiter. Sie haben Marash hinter sich gelassen. Wie meine Boten mir berichten, sind sie dabei, sich wieder zu einem großen Heer zu vereinen. Und wie ich dich kenne, brauche ich dir nicht zu sagen, was ihr nächstes Ziel sein wird.«
»Antiochia«, sagte Bahram ohne Zögern.
»Ohne Zweifel.« Der Emir nickte. »Die Perle des Orontes ist der Schlüssel zu Syrien und zu Palaestina. Die Franken brauchen die Stadt, wenn sie die Kontrolle über den Süden erlangen wollen – sogar ein Narr wie Yaghi Siyan ist sich dessen ganz offenbar bewusst.«
Bahram nickte. Emir Yaghi Siyan war der Statthalter von Antiochia, ein einstiger Gefolgsmann Tutushs, der es nach dessen Tod jedoch vorgezogen hatte, sich dem Schutz von Duqaqs Bruder Ridwan von Aleppo zu unterstellen. Entsprechend schlecht war Duqaq auf den Emir von Antiochia zu sprechen – auch wenn dieser zwischenzeitlich längst mit Ridwan gebrochen hatte.
»Ihr habt Kunde aus Antiochia, Herr?«, fragte Bahram.
Der Herr von Damaskus lächelte, ein Ausdruck tiefster Genugtuung. »Es mag dich verwundern, Armenier, aber unter dem Eindruck der nahenden Bedrohung sah sich der Emir von Antiochia dazu veranlasst, Boten mit der Bitte um Hilfe zu entsenden – nicht nur nach Aleppo, das ihm bei allen Widrigkeiten am nächsten liegt, sondern auch zu mir nach Damaskus, nach Mossul und sogar ins ferne Bagdad. Daran magst du erkennen, wie groß die Furcht dieses elenden Verräters ist, den Allah einst strafen möge.«
»Ich verstehe, Herr«, sagte Bahram nur, der allmählich zu ahnen begann, weshalb man ihn hatte rufen lassen.
»Wie auch immer – mein tumber Bruder wird Yaghi Siyan wohl nicht unterstützen, dafür hat der ihm in den letzten Jahren zu sehr zugesetzt. Ohne die Bedrohung für das Sultanat zu erkennen, wird er Antiochien seinem Schicksal überlassen wollen. Und das gibt mir die Gelegenheit, ihm zu entreißen, was von Beginn mein hätte sein sollen.«
»Mein Fürst?«, fragte Bahram.
»Ich werde Yaghi Syans Hilferuf Folge leisten«, erläuterte Duqaq seinen Entschluss, während er über den mit Leopardenfellen bedeckten Boden zur Stirnseite des Raumes schritt und sich auf eines der großen seidenen Kissen fallen ließ. »Ich werde mit einer Armee nach Antiochia marschieren und die Barbaren ins Meer jagen. Mehr noch, ich werde ein Bollwerk nach Norden errichten, auf dass kein Franke es jemals wieder wagen soll, seinen Fuß auf diese Seite des Gebirges zu setzen – und mein Name wird auf ewig mit der Befreiung des Landes von der Geißel der Barbaren verbunden sein.«
»Ein Platz in den Chroniken der Geschichtsschreiber ist Euch damit gewiss, mein Fürst. Aber ich nehme nicht an, dass dies der einzige Grund dafür ist, dass Ihr Eure alte Feindschaft zu Yaghi Siyan überwindet.«
Duqaq lachte auf, eine Reaktion, die in ihrer Offenheit nicht zu seinem undurchschaubaren, fast verschlagenen Wesen passen wollte. »Bei des Propheten Bart. Jahre mögen vergangen sein, seit du meinem Vater gedient hast, Armenier, aber deine Zunge hat nichts von ihrer Schärfe eingebüßt.«
»Verzeiht, mein Fürst. Das lag nicht in meiner Absicht.«
»Ich weiß, Armenier. Du bist ein Freund offener Worte, anders als diese Speichellecker von Hofbeamten und Beratern, die mich umgeben. Schon mein Vater wusste deine Wahrheitsliebe zu schätzen, sonst hätte er dir die Zunge wohl längst herausgeschnitten.«
»Das ist anzunehmen«, gab Bahram zu.
»Auch ich schätze ein offenes Wort, deshalb gestehe ich ein, dass deine Vermutung richtig ist. Es geht mir nicht darum, diesem verräterischen Narren Yaghi zu Hilfe zu kommen – von mir aus könnten die Barbaren seine Stadt niederbrennen und sein gesamtes Herrschaftsgebiet in Schutt und Asche legen, es wäre mir gleichgültig. Aber sein Hilferuf, mein guter Bahram, ebnet mir den Weg nach Antiochia. Gelingt es mir, es vor dem Zugriff der Franken zu bewahren, so werde ich mich ohne Schwierigkeit zum Herrscher der Stadt aufschwingen können. Und habe ich erst Antiochien und Damaskus unter meiner Gewalt vereint, so ist mir die Vormachtstellung über ganz Syrien sicher.«
Bahram war überrascht. Duqaqs Ehrgeiz war schon immer ausgeprägt gewesen, und so verwunderte es nicht, dass er die sich bietende Gelegenheit zu seinen Gunsten nutzen wollte. Ambitionen wie diese jedoch, die sich auf ganz Syrien bezogen, waren neu und ließen erstmals das Erbe seines Vaters durchblicken.
Die Vorteile einer solchen Politik waren allerdings offensichtlich. In der Vergangenheit hatten die Stadtherren Syriens sich in nicht enden wollenden Machtkämpfen gegenseitig zermürbt, während im Süden die Bedrohung durch den Kalifen von Kairo immer größer geworden war. Ein starkes, vereintes Syrien würde Frieden und Sicherheit bedeuten und in der Lage sein, sowohl dem Kalifat als auch den Eroberern aus dem Norden die Stirn zu bieten.
»Wie kann ich Euch helfen, Herr?«, fragte Bahram.
»Kannst du dir das nicht denken?«
»Ich hege einen Verdacht.«
»Und?«
Bahram seufzte, fügte sich in das Unausweichliche. »Ich habe Eurem Vater viele Jahre treu gedient, Herr. Er war es, der einem Namenlosen ein ehrenvolles und ruhmreiches Leben ermöglichte. Ich habe es ihm vergolten, indem ich ihm treu zur Seite stand und gegen seine Feinde kämpfte. Nach dem Tod Eures Vaters glaubte ich daher, dass die Tage des Kampfes für mich zu Ende seien – doch wenn Feinde das Sultanat bedrohen, bin ich bereit, das Schwert erneut zu erheben.«
»Nichts anderes habe ich erwartet«, sagte Duqaq mit wissendem Lächeln. »Doch ich muss wissen, ob ich deiner Loyalität in diesem Fall ganz sicher sein kann, Bahram al-Armeni.«
»Das könnt Ihr, Herr.«
»Auch wenn es gegen Christen geht?« Die grünen Augen des Fürsten musterten ihn prüfend. »Du weißt, dass dein Irrglaube nie eine Rolle gespielt hat, weder unter meinem Vater noch unter meiner Herrschaft. Dennoch muss ich mir gewiss sein, dass du für die Kreuzfahrer am Ende nicht doch größere Zuneigung hegst als für deinen Landesherrn, der Allahs Diener und Zeuge ist.«
»Das wird nie geschehen, mein Fürst«, versicherte Bahram ohne Zögern. »Mögen jene Angreifer sich auch Christen nennen – in Wirklichkeit verraten sie alles, was der Herr sie gelehrt hat, und sind nichts weiter als ungebildete Barbaren, deren einziges Ansinnen die Zerstörung ist. Mein Platz, Herr«, fügte er mit fester Stimme hinzu, wobei er die linke Hand auf die Scheide und die rechte auf den Griff seines Schwertes legte, »ist hier bei Euch, so wie er einst bei Eurem Vater war.«