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Guillaume betrachtete seinen Waffenbruder von der Seite. Mehr als ein Jahr war vergangen, seit er in den unterirdischen Verliesen von Caen in die Bruderschaft der Suchenden eingeführt worden war – ein Jahr, in dem viel geschehen war und sich noch mehr verändert hatte. Viele von denen, die der geheimen Vereinigung die Treue geschworen und ihr Leben in den Dienst der Suche nach den heiligen Reliquien gestellt hatten, waren nicht mehr am Leben. Obschon die Bruderschaft dafür gesorgt hatte, dass ihre Kämpfer nicht zu darben hatten wie so viele andere, waren viele der Hitze oder grassierenden Krankheiten zum Opfer gefallen – oder wie zuletzt einem unbarmherzigen Feind.

Eustace de Privas gehörte zu denen, die überlebt hatten, aber auch er hatte sich verändert, war nicht mehr jener vor Zuversicht strotzende Recke, als der er Guillaume in Caen erschienen war. Das Oberhaupt der Bruderschaft, die er zusammen mit einigen französischen Rittern gegründet hatte, hatte an Glanz verloren. Sein einst makelloser Teint war fleckig, seine hohen, aristokratischen Wangen eingefallen und sein Bart war nicht länger eine fein getrimmte Zier, sondern ein wucherndes Ungetüm, das die untere Hälfte seines Gesichts verschlang; sein Waffenrock schließlich war zerschlissen, die einstmals blaue Farbe ausgebleicht und schmutzig. Das allein wäre nicht weiter verwunderlich gewesen, denn viele Edle waren im Zuge der vielen Entbehrungen verwildert und zu Schatten ihrer selbst geworden. Doch mit einer Mischung aus Verblüffung und Genugtuung stellte Guillaume fest, dass in Eustaces Zügen erstmals auch Zweifel zu lesen waren.

Er selbst hatte nie Hoffnungen gehegt, was die Ziele des Feldzugs betraf, also hatten sie auch nicht enttäuscht werden können. Seine Interessen richteten sich ausschließlich auf sich selbst, seine beherrschende Empfindung in diesem Augenblick war nicht Niedergeschlagenheit oder Trauer, sondern Wut …

»Wen will das wundern bei solchen Führern«, entgegnete er auf Eustaces Einwurf. »Dummheit und Unfähigkeit regieren, wo Tapferkeit und weise Voraussicht das Sagen haben sollten.«

»Du solltest froh sein, dass ich und niemand sonst dich so reden hört«, erwiderte Eustace. Im Lauf der Zeit waren sie einander vertrauter geworden, und Guillaume genoss inzwischen das Privileg, sich zum engsten Kreis der Bruderschaft zählen zu dürfen – was wohl auch daran lag, dass von Eustaces alten Freunden viele nicht mehr am Leben waren. Zwar waren im Gegenzug zahlreiche junge Adelige aufgenommen worden, doch konnten sie nicht alle Verluste ersetzen.

»Meinst du?« Guillaume schüttelte das Haupt. Angewidert starrte er auf den nicht enden wollenden Zug der Kämpfer, der sich durch die Talsohle schleppte. Auf jeden Ritter, der noch auf dem Pferd saß, kamen zwei, die zu Fuß gingen, und noch ein weiterer, der verwundet war und den sie trugen. Der Pfeilhagel der Muselmanen, in den ihr Anführer sie blindlings hatte rennen lassen, hatte hohe Verluste gefordert, nicht nur unter den Reitern und Fußsoldaten, sondern auch unter den Tieren. »Robert ist ein Dummkopf«, fügte Guillaume bitter hinzu. »Das hat er auch früher schon gezeigt. Ein Stümper wie er verdient es nicht, uns anzuführen.«

»Um Himmels willen«, zischte Eustace und sah sich auf dem Hügelgrat um, so als fürchtete er, sie könnten belauscht werden. »Mäßige dich, Bruder, ich bitte dich!«

»Nein, Eustace.« Guillaume verzog das Gesicht. »Ich bin der Bruderschaft nicht beigetreten, um mich zu mäßigen. Und ganz sicher nicht, um am Ende der Welt mit einem Pfeil in der Brust elend zu verrecken. Wir sind zu Höherem berufen, hast du das vergessen?«

»Natürlich nicht. Aber wie können wir hoffen, die weltlichen Hinterlassenschaften des Herrn zu finden, wenn es uns nicht einmal gelingt, die Stätten seines Wirkens zu erreichen? Bedenke, was sich uns bislang in den Weg gestellt hat, Guillaume: Nicht nur der grausame Feind, auch Elend, Seuchen und Unwetter sind über uns hereingebrochen. Es gibt Prediger, die davon sprechen, dass sich die Prophezeiungen aus der Apokalypse an uns bewahrheiten würden.«

»Und solch einen Unfug glaubst du?« Guillaume schnaubte.

»Du etwa nicht?«

»An den Hindernissen, die sich uns in den Weg gestellt haben, war nichts Übernatürliches. Sie waren die Folge falscher Entscheidungen, die von den Fürsten getroffen wurden, und es ist an der Zeit, dass sich das ändert.«

»Wie?«, fragte Eustace verblüfft.

»Die Bruderschaft hat bislang immer Lösungen gefunden«, schnaubte Guillaume. »Sie hat uns genährt, als andere hungerten, und sie füllt unsere Börsen, wo andere bereits verarmt sind und als elende Bettler nach Hause zurückkehren mussten.«

»Nun«, meinte der Provenzale, »Proviant zu besorgen und Karawanen der Heiden zu überfallen ist eine Sache – unseren Auftrag zu erfüllen hingegen etwas anderes.«

»Es kommt darauf an.«

»Wie meinst du das?«

Um Guillaumes schmale Lippen spielte ein grausames Lächeln. »Weder haben sich die Fleischtöpfe von selbst gefüllt, Eustace, noch haben die Heiden ihren Besitz freiwillig an uns abgegeben. Wir haben die Initiative ergriffen. Hast du nicht selbst gesagt, dass die heiligen Reliquien demjenigen, der sie findet, Macht und Einfluss eintragen werden?«

»Das habe ich, aber …«

»Also sollten wir dafür sorgen, dass sie gefunden werden«, schnitt Guillaume dem Vorsteher der Bruderschaft das Wort ab. »Anders werden wir die Machtverhältnisse im Heer nicht ändern können.«

»Bruder!« Eustace sah ihn zweifelnd an. »Ich höre deine Worte, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich verstehe, was sie bedeuten.«

»Oh, doch, du hast verstanden.« Ebenso wie er selbst es getan hatte, als seine Mutter ihm den Plan zum ersten Mal vorstellte. »Vor einigen Wochen machte ich die Bekanntschaft eines Mannes, der sich Peter Bartholomaios nennt.«

»Peter Bartholomaios?« Eustace schüttelte den Kopf. »Ich habe nie von ihm gehört.«

»Die wenigsten haben das. Er stammt aus einfachen Verhältnissen, und ich werde dich nicht mit Berichten darüber langweilen, wie ich ihn kennenlernte. Aber jener Bartholomaios behauptet, Visionen vom heiligen Andreas zu haben.«

»Er hat Visionen von Sankt Andreas?«, fragte Eustace staunend.

»Nein«, widersprach Guillaume. »Du hörst mir nicht richtig zu. Ich sagte, er behauptet, Visionen zu haben. Ob er die Wahrheit spricht oder nur ein verrückter Eiferer ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Es ist auch nicht von Belang. Ich weiß nur, dass dieser Mann etwas an sich hat, das Menschen zu überzeugen vermag. Und ich denke, dass wir uns seiner bedienen sollten, um unseren Einfluss zu mehren.«

»Uns seiner bedienen?« Eustace starrte Guillaume fragend an, so als müsse er sich versichern, ob er recht gehört hatte. »Aber das … das wäre Betrug! Mehr noch, es wäre eine Sünde gegen alles, was …«

»Ist es eine Sünde, der Wahrheit zum Sieg zu verhelfen? Wir wissen beide, dass es jene Reliquien gibt, die der Herr auf Erden zurückließ, und wir haben einen feierlichen Eid geleistet, sie zu suchen und zu finden, was uns vielleicht auch irgendwann gelingen wird. Aber das Wunder wird nicht irgendwann benötigt, Eustace, sondern bald. Sieh hinab ins Tal, auf diesen Haufen trauriger Verlierer – das ist es, wozu wir verkommen sind! Denkst du nicht, dass diese Männer Hoffnung und Zuversicht verdienen?«

»Nun … ja. Aber durch eine Lüge?«

»Die Lüge ist die Wahrheit der Mächtigen, Eustace, das weißt du so gut wie ich, und wir sollten uns nicht länger scheuen, nach deren Regeln zu spielen. Die heutige Niederlage wird nicht endgültig sein. Wenn das Hauptheer eintrifft, wird es uns fraglos gelingen, die Brücke über den Orontes einzunehmen, und auch Antiochia wird früher oder später fallen. Aber ohne Zweifel werden Tage kommen, da sich unsere Anführer erneut entzweien und sich als unfähig erweisen werden, dieses Heer zu führen – und wie viele Rückschläge können wir noch verkraften? Wie lange noch, bis diese heiligste und größte aller Unternehmungen am Kleinmut ihrer Führer scheitern wird? Man braucht kein Prediger zu sein, um zu ahnen, dass das Ende nahe ist – es sei denn, die Bruderschaft ist bereit, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Die Frage, die wir uns also stellen müssen, lautet: Ist die Bruderschaft dazu bereit? Bist du dazu bereit, Bruder?«