Zusammen mit den Flüchtlingen passierte Chaya das Brückentor und fand sich innerhalb der Jahrhunderte alten Mauern wieder, die die Stadt in einem weiten, von vierhundert Türmen gesicherten Ring umgaben. Während der westliche Rand Antiochias noch einen Teil des Wadis umfasste und aus üppigen Gärten bestand, die zumindest einen Teil der Bevölkerung auch in Krisenzeiten zu ernähren vermochten, grenzte unmittelbar daran das braungraue Häusermeer, über dem sich weit im Osten auf dem Berg Silpius die Zitadelle der Stadt erhob.
Nach all den Wochen und Monaten, die sie auf See, in kleinen Siedlungen oder inmitten ungezähmter Wildnis verbracht hatte, war Chaya in keiner Weise vorbereitet auf das Gedränge, die Lautstärke und die rastlose Hetze, die in den Straßen herrschten und auf sie einstürzten. Staubwolken lagen zwischen den Gebäuden, in denen sich Pferde, Esel, Kamele und Ochsengespanne drängten. Dazwischen versuchten Menschen vorwärtszukommen, während von beiden Straßenseiten Händler riefen, die ihre Waren verkaufen wollten. Kinder schrien, Schafe blökten, hier und dort wurden heisere Befehle gebrüllt, wenn die Stadtwache das Treiben ein wenig zu ordnen suchte.
Das jüdische Viertel lag südöstlich des Zitadellenberges, sodass Chaya die Stadt durchqueren musste. Die Eindrücke, die unterwegs auf sie einstürmten, waren überwältigend. Wundersame Dinge, die sie im Vorbeigehen sah, aber nicht verstand, fremdartige Gerüche und ein Gewirr aus unverständlichen Sprachen machten ihr unmissverständlich klar, dass sie weiter von zu Hause entfernt war als je zuvor und dass es zum ersten Mal in ihrem Leben niemanden mehr gab, auf dessen Schutz und Hilfe sie zählen konnte. Noch immer ging sie als Mann verkleidet, doch ihr war nur zu bewusst, wie dünn der Mantel war, der sie schützte, und wie leicht er im wörtlichen Sinne zerreißen konnte.
Entsprechend groß war ihre Erleichterung, als sie die Gassen des jüdischen Viertels erreichte. Auf ihre Frage, wo sich das Haus des Kaufmanns Ezra befinde, wies man ihr den Weg zu einem Gebäude, das sich am Ende einer schmalen Straße befand. Nach außen hatte es lediglich ein Tor und zwei kleine Fenster, aber die drei Stockwerke und die Sonnensegel, die sich in luftiger Höhe über den Dachgarten spannten, ließen vermuten, dass es sich um das Haus eines wohlhabenden Bürgers handelte. Nun, da sie ihrem Ziel so nahe war, merkte Chaya, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Sollte ihre Reise, die weit mehr als ein Jahr gedauert, die sie von einem Ende der Welt zum anderen geführt und die ihren Vater das Leben gekostet hatte, tatsächlich zu Ende sein?
Wie in Trance ging sie die letzten Schritte und trat unter den Baldachin, der das Eingangstor vor den Sonnenstrahlen beschirmte.
Dann klopfte sie an.
»Ja?«, fragte jemand von drinnen auf Hebräisch.
Chaya atmete innerlich auf. Es war beruhigend, eine Sprache zu hören, die sie verstand. Sie antwortete, dass sie den Kaufmann Ezra Ben Salomon in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünsche, worauf die Tür geöffnet wurde und die verkniffene Miene eines ältlichen Mannes erschien, der wohl der Hausverwalter war.
»Weshalb wollt Ihr den Kaufmann sprechen?«, verlangte er zu wissen.
»Ist dies sein Haus?«
»Das ist es. Aber Ihr werdet diese Schwelle nicht übertreten, ehe Ihr mir nicht gesagt habt, wer Ihr seid und was Ihr wollt.«
Chaya holte tief Luft. Es war an der Zeit, die Maske fallen zu lassen. Mit einer flüchtigen Handbewegung streifte sie das Kopftuch ab und offenbarte ihre weichen Gesichtszüge und ihr fast bis zu den Schultern reichendes Haar.
»Was in aller Welt …?«
»Ich bin Chaya, die Tochter seines Bruders Isaac Ben Salomon«, sagte Chaya rasch, worauf der Verwalter verstummte. Sein Mienenspiel wechselte von Entrüstung zu Überraschung und schließlich zu Ratlosigkeit.
»Wartet hier«, beschied er ihr und schloss die Tür wieder. Einen bangen Augenblick lang fragte sich Chaya, ob sie ihre Chance bereits vertan und es ihr womöglich gar nicht gelingen würde, zu ihrem Onkel vorgelassen zu werden.
Die Ungewissheit währte zum Glück nicht lange, denn schon kurz darauf wurde die Tür erneut geöffnet und nicht der mürrische Hausverwalter stand auf der Schwelle, sondern ein stämmiger Mann, der um die sechzig Jahre alt sein mochte. Von seinem Gesicht, das von einer großen Knollennase beherrscht wurde, war kaum etwas zu sehen, da die obere Hälfte von einem Turban verhüllt und die untere von einem grauen krausen Bart überwuchert wurde. Seine Leibesfülle wurde von einem weiten Gewand bedeckt, über dem er einen losen Mantel aus bestickter Seide trug, dazu eine Schärpe um den beträchtlichen Wanst. Auf den ersten Blick war dieser Mann für Chaya ein Fremder, denn nichts an ihm schien an die hagere, asketische Erscheinung Isaac Ben Salomons zu erinnern. In seinen dunklen, von buschigen Brauen überwölbten Augen jedoch erkannte Chaya ihren Vater wieder.
»Onkel Ezra?«, fragte sie zaghaft.
Der Beleibte stand vor ihr wie vom Donner gerührt. Dann hellte sich seine bärtige Miene plötzlich auf. »Chaya! Nichte!«
Ein breites Grinsen erschien auf seinem Gesicht, etwas erwidern konnte Chaya nicht mehr, denn die Pranken ihres Onkels packten sie an den Schultern und im nächsten Moment wurde Chaya mit einer Innigkeit an die breite Brust des Kaufmanns gedrückt, dass sie kaum noch Luft bekam. Nur für einen kurzen Augenblick ließ er sie los und schob sie auf Armlänge von sich weg, um sie zu betrachten, dann zog er sie erneut an sich heran und umarmte sie so herzlich wie ein Vater ein verloren geglaubtes Kind.
»Dass es mir altem Mann vergönnt ist, das noch zu erleben«, sagte er mit Tränen in den Augen und dankte Gott in einem kurzen Gebet. Erst dann gab er Chaya wieder frei, noch immer überwältigt vor Freude. »Verzeih einem alten Narren seine Gefühlsduselei, mein Kind.« Sein Tonfall erinnerte Chaya unweigerlich an ihren Vater. »Aber von dem Tag an, da Issac mich in einem Brief über euer Kommen unterrichtete, gab es keine Stunde, in der ich nicht an euch gedacht und für eure sichere Ankunft gebetet habe – und nun endlich seid ihr hier.«
»Ich bin hier, Onkel«, erklärte Chaya leise und beugte traurig das Haupt.
»Und – Isaac?«
Chaya wagte es nicht aufzublicken. Sie wollte das Entsetzen in den Zügen ihres Onkels nicht sehen, wollte nicht an ihren eigenen Schmerz erinnert werden. Sie schüttelte einfach nur den Kopf und blickte zu Boden. Aber wenn sie geglaubt hatte, dass Ezra in Wehklagen ausbrechen würde, so hatte sie sich geirrt. »Armes Kind«, sagte der Kaufmann stattdessen in ehrlichem Bedauern, während er ihr den Arm auf die Schulter legte und sie ins Haus zog. »Was hast du alles durchmachen müssen? Du wirst mir alles berichten, was geschehen ist, hörst du? Jede Einzelheit. Doch nun komm erst einmal herein und sei willkommen in meinem Haus. Mögest du hier Erholung finden von der langen Reise …«
»… und Trost«, fügte jemand hinzu, der hinter Ezra im Halbdunkel des Ganges stand.
Es war ein junger Mann, der etwa in Chayas Alter sein mochte, vielleicht ein wenig jünger. Sein schwarzes Haar war kurz geschnitten, sein Kinnbart noch kaum gewachsen. Ein Lächeln lag auf seinem schmalen Gesicht, die dunklen Augen blickten in stiller Erwartung.
»Darf ich vorstellen?«, fragte Ezra, nachdem er die Tür hinter Chaya geschlossen und wieder verriegelt hatte. »Dies ist Caleb, mein einziger Sohn und dein Cousin.«
»Schalom, Chaya«, sagte Caleb, ohne sie aus den Augen zu lassen.
»Schalom, Caleb«, erwiderte sie und beugte leicht das Haupt.
»Eigentlich müsstest du Caleb noch aus deinen Kindertagen kennen, aus der Zeit, bevor ich Köln verließ, um ins Land der Väter zu gehen und dort für Isaac – ich meine für deinen Vater – eine Handelsniederlassung zu gründen. Ihr habt zusammen gespielt, als ihr noch klein wart.«