»Ich erinnere mich dunkel.« Chaya nickte. »Du hast mich an den Haaren gezogen und mich mit Lehm beworfen.«
»Wirklich?« Caleb errötete ein wenig. »Das würde ich heute nicht mehr tun, glaub mir.«
»Das glaube ich dir gern.« Sie lächelte. »Du bist ein ansehnlicher junger Mann geworden.«
»Sag so etwas nicht«, ging Ezra dazwischen. »Du bringst den armen Burschen nur in Verlegenheit.« Er lachte, freilich auf Calebs Kosten, der darüber noch mehr errötete. Dann wurde der Kaufmann plötzlich wieder ernst. »Sag, mein Kind, hast du …? Ich meine …«
Ihm war anzusehen, dass es etwas gab, das er nicht beim Namen nennen wollte, wohl weil er nicht wusste, ob seine Nichte überhaupt Kenntnis hatte von den Dingen, die ihren Vater bewegt hatten. Chaya beschloss, das Versteckspiel zu beenden.
»Können wir offen reden?«, fragte sie.
»Natürlich«, versicherte der Kaufmann verblüfft. »Wegen Caleb mach dir keine Sorgen. Als mein zukünftiger Erbe ist er in das Geheimnis eingeweiht und ein Träger wie …«
»… wie Vater und du«, brachte Chaya den Satz zu Ende. »Auch ich kenne das Geheimnis, Onkel, aber nicht deshalb, weil Vater sein Versprechen gebrochen und es mir offenbart hätte, sondern weil ich es ohne sein Wissen und gegen seinen ausdrücklichen Willen zu ergründen suchte. Ihn trifft also keine Schuld daran, dass es kein Träger, sondern eine Trägerin war, die das Buch ins Land der Väter zurückgebracht hat.«
»Dann – ist es also hier?«, fragte Ezra atemlos.
»Ja, Onkel«, bestätigte Chaya und legte die Hand auf jene Stelle ihres Gewandes, wo sie den ledernen Köcher verborgen hielt.
»Dann sei der Herr gepriesen für seine Gerechtigkeit und seine mächtige Hand – denn nichts anderes als göttliches Walten kann es gewesen sein, das dir das Geheimnis offenbarte und dich die Bürde deines Vaters übernehmen ließ. Sei willkommen in meinem Haus, Chaya – deine Mission ist zu Ende.«
Die nächsten Stunden verbrachte Chaya damit, sich auszuruhen.
Man wies ihr eine Kammer zu, die Zugang zu einem kleinen Dachgarten hatte, von dem aus man die alte Kathedrale von Antiochia sehen konnte, die sich eindrucksvoll aus dem Häusermeer erhob. Aus Furcht davor, sie könnten mit den herannahenden Kreuzfahrern sympathisieren oder gar innerhalb der Stadtmauern einen Aufstand anzetteln, hatte Yaghi Siyan, der türkische Statthalter von Antiochia, alle christlichen Würdenträger der Stadt verwiesen, sodass die Kathedrale verwaist war und nun von den Muslimen zum Gebet genutzt wurde. Von oben betrachtet hatte die Unruhe, die allenthalben herrschte, etwas von einem wimmelnden Ameisenhaufen, und unwillkürlich fühlte sich Chaya an ihre alte Heimat erinnert. Wehmut wollte sich in ihr Herz schleichen, doch die Erleichterung darüber, endlich jemanden zu haben, mit dem sie die Last des Wissens um das Buch von Ascalon teilen konnte, war stärker als das Heimweh.
Am späten Nachmittag wurde sie zum Essen gerufen. Ezras Gattin Batya, eine Jüdin aus Antiochia, die er zur Frau genommen hatte, nachdem Esther, die Mutter Calebs, vor einigen Jahren verstorben war, holte Chaya ab und führte sie nach unten in den von Palmen gesäumten Innenhof, auf den das Speisezimmer mündete. Da es die Tage zwischen Neujahr und dem Versöhnungsfest waren, wurde eine zwar sättigende, jedoch einfache Mahlzeit gereicht, die aus Linsen, Fisch und getrockneten Früchten bestand. Chaya, der es lange nicht möglich gewesen war, sich an die Vorschriften der Kaschrut zu halten, war dankbar dafür, nach langer Entbehrung wieder koschere Speisen essen zu können. Etwas beruhigend Vertrautes lag darin – zugleich aber fühlte sie sich auch an ihre Verfehlung erinnert, als die ihre Religion die Liebe zu einem Christen brandmarkte.
Im Anschluss an das Mahl zogen Batya und ihre beiden Töchter Irit und Rinah sich zurück, worauf Ezra Chaya bat, von ihrer langen Reise zu berichten. Chaya begann zu erzählen: von den Ereignissen von Clermont und den beunruhigenden Vorfällen, zu denen es daraufhin im Reich gekommen war; von ihrer überstürzten Abreise und der langen Wanderschaft gen Süden; von der verzögerten Überfahrt und Isaacs Fieber; von der syrischen Karawane und den Gefahren einer aus den Fugen geratenen Welt.
Auch vom Tod ihres Vaters berichtete sie in allen Einzelheiten, und es überraschte sie selbst, mit welcher Gefasstheit sie das tat. Vielleicht, weil seit jenen schmerzlichen Ereignissen nun doch schon ein wenig Zeit verstrichen war. Vielleicht aber auch, weil in der Zwischenzeit etwas geschehen war, das wieder Licht und Freude in ihr Leben gebracht hatte.
Einen Augenblick lang schweiften ihre Gedanken ab, und sie musste an Conwulf denken. Ihr Onkel hatte selbst gesagt, dass ihre Aufgabe beendet war. Was, wenn sie ihre wiedergewonnene Freiheit dazu nutzte, die Stadt zu verlassen und …
»So bist du also hierhergelangt«, unterbrach Ezras sanfte Stimme ihren Gedankengang, die sie so sehr an ihren Vater erinnerte. »Gottes Pfade sind für Menschen wahrlich unergründlich. Doch es ist sein Wille, auf den wir vertrauen.«
»Das tun wir, Onkel. Dennoch bin ich mir in diesem Fall nicht sicher, ob es Gottes Wille gewesen ist oder mein Eigensinn. Wider Vaters Beschluss habe ich es ertrotzt, ihn auf seiner Mission zu begleiten. Dabei hätte mir von Beginn an klar sein müssen, dass ich ihn nur von seiner Aufgabe ablenke und er sich meinetwegen in Gefahr begibt. Wäre ich in Köln geblieben und hätte Mordechai Ben Neri geheiratet, wie Vater es für mich vorgesehen hatte, wäre womöglich alles anders …«
Sie unterbrach sich, als sie sah, wie Ezra verlegen die Lippen schürzte und einen langen Blick mit Caleb tauschte.
»Demnach weißt du es noch nicht?«, erkundigte sich ihr Cousin vorsichtig.
Chaya schaute fragend von einem zum anderen. »Was meinst du? Was soll ich nicht wissen?«
»Was sich nach eurer Abreise in Köln ereignet hat«, antwortete Caleb leise, und wieder wechselten sein Onkel und er einen Blick, was Chaya höchst beunruhigend fand.
»Nun, wir … wir hörten Gerüchte«, sagte sie. »Während wir in Italien weilten, hieß es, dass jener Graf Emicho, der in Mainz grässliche Bluttaten verübte, Köln zwar erreicht hätte, jedoch unverrichteter Dinge wieder abgezogen sei, nachdem er in der Stadt keine Juden mehr vorfand.«
»Das ist er«, stimmte Ezra zu. »Aber Soldaten aus der Stadt und dem Umland haben sich in den darauf folgenden Wochen zu Banden zusammengeschlossen, die durch die Lande zogen und nach unseren Schwestern und Brüdern suchten. Glücklicherweise war ihnen auf ihrer Jagd kein allzu großer Erfolg beschieden, denn wie zu hören war, haben unsere Leute klug und besonnen gehandelt, sodass sich die meisten von ihnen den Nachstellungen des Pöbels entziehen konnten. Zweiundzwanzig jedoch fanden den Tod – unter ihnen auch Mordechai Ben Neri und Daniel Bar Levi, der Vorsteher der Kölner Gemeinde.«
»Was? Seid ihr sicher?«, fragte Chaya erschrocken.
»So sicher wir sein können. Ein Händler aus Venedig brachte die Nachricht im vergangenen Winter, der sie wiederum von einem jüdischen Kaufmann erfahren haben wollte, der oft in Köln weilt.«
»Ich verstehe.« Chaya nickte. Sie verspürte ein schmerzhaftes Ziehen im Bauch, nicht aus Trauer, denn dazu hatte sie Mordechai Ben Neri weder gut genug gekannt noch gemocht. Die Nachricht bestürzte sie dennoch, denn wenn ein Mann wie Mordechai, der es doch stets verstanden hatte, sich mit den Christen gutzustellen und Schaden von sich abzuwehren, der Mordlust der Fanatiker zum Opfer gefallen war, um wie vieles mehr mussten dann alle anderen Juden im Reich um ihr Leben fürchten?
»Die Christen sind Bestien«, zischte Caleb, der ihre Gedanken zu erraten schien. »Tiere in Menschengestalt. Wohin sie auch kommen, haben sie Tod und Zerstörung im Gefolge. Wir müssen sie aufhalten, sie erschlagen wie räudige …«
»Caleb«, rief Ezra seinen Sohn zur Ordnung. »Deine Hasstiraden helfen uns nicht weiter.«