»Das Fasten, das die Rabbiner predigen, aber auch nicht, Vater«, konterte der Jüngling trotzig, und an dem Funkeln in seinen Augen glaubte Chaya zu erkennen, dass es nicht der erste Streit war, den die beiden über dieses Thema austrugen.
»Du musst es Caleb nachsehen, Nichte. Wie so viele in diesen Tagen fürchtet er sich vor dem, was kommen wird, und er glaubt, seine Angst mit dem Geschrei nach Gewalt vertreiben zu können.«
»Das ist nicht wahr, Vater«, widersprach Caleb entschieden und bekam einen roten Kopf – zum einen aus Zorn, zum anderen wohl auch, weil Ezras Worte seine Eitelkeit kränkten. »Ich fürchte die Krieger des Kreuzes nicht! Gäbe es in unserer Gemeinde mehr, die so denken wie ich, hätten wir die Angreifer längst in die Flucht geschlagen!«
»Ein Kreuzfahrer ist es auch gewesen, der mich gerettet hat«, gab Chaya zu bedenken. »Es ist unstrittig, dass Diebe und Mörder unter ihnen sind. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es auch andere gibt, die die Gebote ihrer Religion achten und zwischen Freund und Feind wohl unterscheiden.«
»Aber ein Christenhund hat deinen Vater getötet!«, wandte Caleb wenig rücksichtsvoll ein.
»Und ein anderer hat mich vor einem grausamen Schicksal bewahrt«, hielt Chaya dagegen. »Oder glaubst du, ich säße hier vor euch, wenn die Tafur nicht vertrieben worden wären?«
»Chaya hat recht«, stimmte Ezra seiner Nichte zu. »Wir dürfen nicht in dieselbe Blindheit verfallen, mit der unsere Feinde geschlagen sind. Wir werden die Welt nicht ändern, indem wir ihre Schlechtigkeit annehmen, sondern indem wir das bewahren, was gut und gerecht ist auf Erden.«
Sein Blick verstärkte sich wie eine Flamme, die neue Nahrung fand, und Chaya begriff, worauf ihr Onkel angespielt hatte – auf das Buch von Ascalon. »Du hast sehr mutig gehandelt, Nichte. Doch nun ist die Zeit gekommen, die Last der Verantwortung anderen zu übertragen.«
Chaya zögerte. Weshalb, wusste sie selbst nicht genau zu sagen. Vielleicht, weil es ihr schwerfiel, sich von etwas zu trennen, das ihrem verstorbenen Vater so teuer und kostbar gewesen war. Vielleicht, weil sie in der kurzen Zeit, in der sie im Besitz des Buchs gewesen war, den Hauch des Ewigen verspürt hatte. Vielleicht aber auch, weil sie für einen kurzen Moment in Calebs Augen einen begehrlichen Glanz zu entdecken glaubte.
»Es ist gut«, redete Ezra ihr zu. »Du hast die Aufgabe, die dir so unvermittelt übertragen wurde und auf die du nicht vorbereitet sein konntest, nach bestem Gewissen erfüllt. Nun ist die Zeit gekommen, um das Buch jenen zu übergeben, die wissen, wie sie damit zu verfahren haben.«
»Und dieses Wissen«, fügte Caleb hinzu, wobei es erneut in seinen Augen funkelte, »wird unseren Feinden schlecht bekommen.«
»Was meinst du damit?«, wollte Chaya wissen.
»Wenn du den Inhalt der Schrift kennst, brauchst du diese Frage nicht zu stellen. Du weißt, was das Geheimnis vermag, oder nicht?«
»Ich weiß es, aber ich frage mich, ob dies seine Bestimmung ist.«
»Darüber werden andere zu befinden haben«, stellte ihr Onkel klar. »Calebs und meine Aufgabe wird es sein, das Buch nach Jerusalem zu bringen, wo den Voraussagen gemäß an einem geheimen Ort ein neuer Sanhedrin zusammentreten und wie in den Tagen des Zweiten Tempels über das zukünftige Schicksal unseres Volkes entscheiden wird.«
Chaya nickte. Ezras Worte deckten sich mit dem, was sie in der geheimen Schrift gelesen hatte. Demnach gab es im Volke Israel nicht nur Träger und Bewahrer, sondern auch Räte, die über Generationen hinweg das Amt ihrer Väter geerbt hatten für jene Zeit, in der der Sanhedrin, der einst das höchste politische Gremium in Judäa gewesen war, wieder tagen würde. Und angesichts der Tatsache, dass das Buch von Ascalon nach jahrhundertelanger Wanderschaft wieder in seine Heimat zurückgekehrt war, war dieser Tag nicht mehr fern.
Erleichtert darüber, die Schrift endlich aus den Händen geben zu dürfen, griff Chaya unter ihr Gewand und beförderte den Köcher zutage, der das Siegel Salomons trug und den sie wie einst ihr Vater von außen unsichtbar am Lederriemen über der Schulter trug. Sie öffnete die Schnalle und nahm den Riemen ab, stellte den Behälter vor sich auf den Tisch. Ein Leuchten huschte daraufhin über die Züge Ezras und seines Sohnes.
»Das ist es«, stellte Ezra mit vor Andacht bebender Stimme fest. »Nur ein einziges Mal, vor vielen Jahren, habe ich es erblickt, dennoch erkenne ich es wieder.«
»Darf ich es sehen, Vater?«, fragte Caleb, der seine Aufregung kaum zügeln konnte. In ungeduldiger Erwartung rieb er sich die Hände, kleine Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. »Darf ich einen Blick auf die Worte werfen, die unserem Volk Rettung und Freiheit bringen werden?«
»Ja, Sohn. Die Zeit ist reif dafür.«
Mit vor Ehrfurcht bebenden Händen griff er nach dem Köcher und öffnete den Verschluss. Dann drehte er die Röhre behutsam, um ihr die Rolle zu entnehmen – doch wie weiteten sich seine Augen, wie entsetzten sich seine Züge, als er nicht die ersehnte Schrift, sondern ein brüchiges Stück Pergament in den Händen hielt!
»Herr im Himmel!«, rief er aus, während er vergeblich versuchte, noch eine zweite Schriftrolle aus dem leeren Köcher zu schütteln. »Was bei allen Propheten …?«
Als Caleb sah, dass etwas nicht stimmte, riss er seinem Vater das Pergament aus den Händen und entrollte es, worauf es an einigen Stellen brach.
Es war ein Palimpsest, an vielen Stellen abgeschabt und neu beschrieben, und nicht hebräische Zeichen, sondern lateinische Buchstaben prangten darauf.
»Was hat das zu bedeuten?«, schrie er so laut, dass es von der Gewölbedecke widerhallte und bis hinaus in den Garten drang. »Wer hat das getan?«
Chaya war kreidebleich geworden.
Ungläubig starrte sie auf das Palimpsest, während sie das Gefühl hatte, in einen tiefen Abgrund zu stürzen.
Nur eine Antwort fiel ihr auf Calebs Frage ein.
Conwulf.
19.
Feldlager nördlich von Antiochia
Ende November 1097
Guillaume de Rein hatte recht behalten – zumindest in mancher Hinsicht.
Wie er vorausgesagt hatte, war es den vereinten Verbänden der Kreuzfahrer tatsächlich gelungen, die eiserne Brücke über den Orontes zu überwinden und bis vor die Mauern Antiochias vorzustoßen, wo man Lager bezogen und mit der Belagerung der Stadt begonnen hatte. Seine Annahme, der Fürstenrat würde schon bald eine weitere Fehlentscheidung treffen und die Unternehmung dadurch gefährden, bewahrheitete sich jedoch nicht.
Das Gegenteil war der Fall, denn die späte Jahreszeit und das fruchtbare Orontes-Tal sorgten dafür, dass die Kreuzfahrer erstmals nach Verlassen der Heimat wieder im Überfluss schwelgen konnten, vom höchsten Fürsten bis hinab zum geringsten Knecht. Von den unzähligen Schafen und Rindern, die man von den Höfen des Umlands zusammentrieb, um sie zu schlachten, wurden nur die besten und saftigsten Stücke gegessen. Getreide, für das die meisten auf dem Hungermarsch durch Anatolien gemordet hätten, wurde schlichtweg verschmäht.
Die Stimmung im Lager war entsprechend gut, obschon es bislang nicht gelungen war, im Kampf gegen die seldschukischen Besatzer Antiochias entscheidende Erfolge zu erzielen. Gewiss, man hatte Katapulte aufgestellt, mit denen die alten Mauern beschossen wurden, jedoch ohne nennenswertes Ergebnis. Und es war gelungen, drei der Stadttore abzuriegeln und den Muselmanen auf diese Weise einen Teil ihrer Nachschubwege zu verlegen – die nach Süden und Westen gerichteten Tore allerdings blieben auch weiterhin unbesetzt, weil die Anzahl der Truppen nicht ausreichte, um Antiochia mit einem vollständigen Belagerungsgürtel zu umgeben. Im Osten, wo die Stadt an eine unwegsame, von wilden Schluchten durchzogene Gebirgskette grenzte, war dies ohnehin unmöglich.