»Ich hab’ nur noch meine Mutti«, flüstert Lotte.
Frau Muthesius taucht den Federhalter ins Tintenfaß. »Zuerst also, dein Geburtstag!«
Lotte geht den Korridor entlang, steigt die Treppen hinauf, öffnet eine Tür und steht im Schrankzimmer. Ihr Koffer ist noch nicht ausgepackt. Sie fängt an, ihre Kleider, Hemden, Schürzen und Strümpfe in den ihr zugewiesenen Schrank zu tun. Durchs offene Fenster dringt fernes Kinderlachen.
Lotte hält die Fotografie einer jungen Frau in der Hand. Sie schaut das Bild zärtlich an und versteckt es dann sorgfältig unter den Schürzen. Als sie den Schrank schließen will, fällt ihr Blick auf einen Spiegel an der Innenwand der Tür. Ernst und forschend mustert sie sich, als sähe sie sich zum erstenmal. Dann wirft sie, mit plötzlichem Entschluß, die Zöpfe nach hinten und streicht das Haar so, daß ihr Schopf dem Luise Palffys ähnlich wird.
Irgendwo schlägt eine Tür. Schnell, wie ertappt, läßt Lotte die Hände sinken.
Luise hockt mit ihren Freundinnen auf der Gartenmauer und hat eine strenge Falte über der Nasenwurzel.
»Ich ließe mir das nicht gefallen«, sagt Trude, ihre Wiener Klassenkameradin. »Kommt da frech mit deinem Gesicht daher!« »Was soll ich denn machen?« fragt Luise böse.
»Zerkratz es ihr!« schlägt Monika vor.
»Das beste wird sein, du beißt ihr die Nase ab!« rät Christine. »Dann bist du den ganzen Ärger mit einem Schlag los!« Dabei baumelt sie gemütlich mit den Beinen.
»Einem so die Ferien zu verhunzen!« murmelt Luise, aufrichtig verbittert.
»Sie kann doch nichts dafür«, erklärt die pausbäckige Steffie. »Wenn nun jemand käme und sähe wie ich aus.«
Trude lacht. »Du glaubst doch selber nicht, daß jemand anderer so blöd wäre, mit deinem Kopf herumzulaufen!«
Steffie schmollt. Die anderen lachen. Sogar Luise verzieht das Gesicht.
Da ertönt der Gong.
»Die Fütterung der Raubtiere!« ruft Christine. Und die Mädchen springen von der Mauer herunter.
Frau Muthesius sagt im Speisesaal zu Fräulein Ulrike: »Wir wollen unsere kleinen Doppelgängerinnen nebeneinander setzen. Vielleicht hilft eine Radikalkur!«
Die Kinder strömen lärmend in den Saal. Schemel werden gerückt. Die Mädchen, die Dienst haben, schleppen dampfende Terrinen zu den Tischen. Andere füllen die Teller, die ihnen entgegengestreckt werden.
Fräulein Ulrike tritt hinter Luise und Trude, tippt Trude leicht auf die Schulter und sagt: »Du setzt dich neben Hilde Sturm.«
Trude dreht sich um und will etwas antworten. »Aber.«
»Keine Widerrede, ja?«
Trude zuckt die Achseln, steht auf und zieht maulend um.
Die Löffel klappern. Der Platz neben Luise ist leer. Es ist erstaunlich, wie viele Blicke ein leerer Platz auf sich lenken kann.
Dann schwenken wie auf ein Kommando alle Blicke zur Tür. Lotte ist eingetreten.
»Da bist du ja endlich«, sagt Fräulein Ulrike. »Komm, ich will dir deinen Platz zeigen.« Sie bringt das stille, ernste Zopfmädchen zum Tisch. Luise blickt nicht auf, sondern ißt wütend ihre Suppe in sich hinein. Lotte setzt sich folgsam neben Luise und greift zum Löffel, obwohl ihr der Hals wie zugeschnürt ist.
Die anderen kleinen Mädchen schielen hingerissen zu dem merkwürdigen Paar hinüber. Ein Kalb mit zwei bis drei Köpfen könnte nicht interessanter sein. Der dicken, pausbäckigen Steffie steht vor lauter Spannung der Mund offen.
Luise kann sich nicht länger bezähmen. Und sie will’s auch gar nicht. Mit aller Kraft tritt sie unterm Tisch gegen Lottes Schienbein!
Lotte zuckt vor Schmerz zusammen und preßt die Lippen fest aufeinander.
Am Tisch der Erwachsenen sagt die Helferin Gerda kopfschüttelnd: »Es ist nicht zu fassen! Zwei wildfremde Mädchen - und eine solche Ähnlichkeit!«
Fräulein Ulrike meint nachdenklich: »Vielleicht sind es astrologische Zwillinge?«
»Was ist denn das nun wieder?« fragt Fräulein Gerda. »Astrologische Zwillinge?«
»Es soll Menschen geben, die einander völlig gleichen, ohne im entferntesten verwandt zu sein. Sie sind aber im selben Bruchteil der gleichen Sekunde zur Welt gekommen!« Fräulein Gerda murmelt: »Ah!«
Frau Muthesius nickt. »Ich hab’ einmal von einem Londoner Herrenschneider gelesen, der genau wie Eduard VII. der englische König, aussah. Zum Verwechseln ähnlich. Um so mehr als der Schneider den gleichen Spitzbart trug. Der König ließ den Mann in den Buckingham-Palast kommen und unterhielt sich lange mit ihm.«
»Und die beiden waren tatsächlich in der gleichen Sekunde geboren worden?«
»Ja. Es ließ sich zufälligerweise exakt feststellen.«
»Und wie ging die Geschichte weiter?« fragt Gerda gespannt.
»Der Herrenschneider mußte sich auf Wunsch des Königs den Spitzbart abrasieren lassen!«
Während die anderen lachen, schaut Frau Muthesius nachdenklich zu dem Tisch hinüber, an dem die zwei kleinen Mädchen sitzen.
Dann sagt sie:
»Lotte Körner bekommt das Bett neben Luise Palffy! Sie werden sich aneinander gewöhnen müssen.«
Es ist Nacht. Und alle Kinder schlafen. Bis auf zwei. Diese zwei haben einander den Rücken zugekehrt, tun, als schliefen sie fest, liegen aber mit offenen Augen da und starren vor sich hin.
Luise blickt böse auf die silbernen Kringel, die der Mond auf ihr Bett malt. Plötzlich spitzt sie die Ohren. Sie hört leises, krampfhaft unterdrücktes Weinen.
Lotte preßt die Hände auf den Mund. Was hatte ihr die Mutter beim Abschied gesagt: »Ich freue mich so, daß du ein paar Wochen mit vielen fröhlichen Kindern beisammen sein wirst! Du bist zu ernst für dein Alter, Lottchen! Viel zu ernst! Ich weiß, es liegt nicht an dir. Es liegt an mir. An meinem Beruf. Ich bin zuwenig zu Hause. Wenn ich heimkomme, bin ich müde. Und du hast inzwischen nicht gespielt wie andere Kinder, sondern aufgewaschen, gekocht, den Tisch gedeckt. Komm, bitte, mit tausend Lachfalten zurück, mein Hausmütterchen!«
Und nun liegt sie hier in der Fremde, neben einem bösen Mädchen, das sie haßt, weil sie ihm ähnlich sieht.
Sie seufzt leise.
Da soll man nun Lachfältchen kriegen!
Lotte schluchzt vor sich hin.
Plötzlich streicht eine kleine, fremde Hand unbeholfen über ihr Haar!
Lottchen wird stocksteif vor Schreck.
Vor Schreck?
Luises Hand streicht schüchtern weiter.
Der Mond schaut durchs große Schlafsaalfenster und staunt nicht schlecht: Da liegen zwei kleine Mädchen nebeneinander, die einander nicht anzusehen wagen, und die eine, die eben noch weinte, tastet jetzt mit ihrer Hand ganz langsam nach der streichelnden Hand der anderen.
»Na gut«, denkt der alte, silberne Mond. »Da kann ich ja beruhigt untergehen!«
Und das tut er denn auch.
ZWEITES KAPITEL
Vom Unterschied zwischen Waffenstillstand und Frieden - Der Waschsaal als Frisiersalon - Das doppelte Lottchen - Trude kriegt eine Ohrfeige - Der Fotograf Eipeldauer und die Förstersfrau - Meine Mutti, unsere Mutti - Sogar Fräulein Ulrike hat etwas geahnt
Besaß der Waffenstillstand zwischen den zweien Wert und Dauer? Obwohl er ohne Verhandlungen und Worte geschlossen worden war? Ich möcht’s schon glauben. Aber vom Waffenstillstand zum Frieden ist ein weiter Weg. Auch bei Kindern. Oder?
Sie wagten einander nicht anzusehen, als sie am nächsten Morgen aufwachten, als sie dann in ihren weißen, langen Nachthemden in den Waschsaal liefen, als sie sich, Schrank an Schrank, anzogen, als sie, Stuhl an Stuhl, beim Milchfrühstück saßen, und auch nicht, als sie nebeneinander, Lieder singend, am See entlangliefen und später mit den Helferinnen Reigen tanzten und Blumenkränze flochten. Ein einziges Mal kreuzten sich ihre raschen, huschenden Blicke, doch dann waren sie auch schon wieder erschrocken voneinander weggeglitten.