»Hatte er denn recht?«
Dalziel warf ihm einen eisigen Blick zu, dem Pascoe ohne Blinzeln standhielt. Unterdrückter Zorn hatte auch seine Vorteile, wie etwa Immunität gegenüber Bedrohung.
»Einer der Ortsansässigen stand unter Verdacht«, fuhr der Dicke abrupt fort. »Ich hatte ihn nie ernsthaft im Visier, der hatte nicht alle Fransen am Teppich. Aber wir nahmen ihn nach dem Verschwinden des zweiten Mädchens mit. Konnten ihm nichts nachweisen und mußten ihn wieder laufenlassen. Dann verschwand Mary Wulfstan, und ihrem alten Herrn brannten die Sicherungen durch.«
»Und der Typ aus dem Dorf?«
»Benny Lightfoot. Der verschwand auch. Das heißt, einmal wurde er noch gesehen. Ein anderes Mädchen, Betsy Allgood, wurde von ihm angegriffen, aber das war später, Wochen später. Sie meinte, es sei definitiv Lightfoot gewesen. Damit war für die meisten der Fall erledigt, vor allem für die verdammten Zeitungsfritzen. In deren Augen hatten wir ihn schon geschnappt und dann wieder laufenlassen.«
»Sie waren anderer Meinung?«
»Oder wollte es sein. Das ist immer schwer zu unterscheiden.«
Dieses Eingeständnis von Schwäche war so beunruhigend wie das Räuspern aus einem Sarg.
»Also haben Sie ihn gesucht?«
»Es gab mehr Erscheinungen als bei Elvis. Irgend jemand entdeckte ihn sogar im Fernsehen beim Londoner Marathon. Das paßte. Dieser Benny trug seinen Namen zu Recht. Langsam im Hirn, schnell zu Fuß. Er konnte einen Berg geradezu rauffliegen. Nachdem wir nie eine Spur von ihm fanden, ist er vielleicht sogar drübergeflogen, wer weiß? Oder reingekrochen, wie manche im Dorf spekulierten.«
»Bitte?«
»In den Neb. So nennen sie den Berg zwischen Dendale und Danby. Auf der Karte heißt er Long Denderside. Voller verdammter Löcher, vor allem auf der Dendale-Seite. Nach Danby hin ist es ein anderes Gestein oder so, fragen Sie mich nicht. Also gibt es da jede Menge Höhlen und Tunnel, die meisten voll Wasser, außer in der Dürrezeit.«
»Haben Sie sie abgesucht?«
»Das Bergungsteam ging rein, nachdem das erste Mädchen verschwunden war. Und nach dem zweiten wieder. Nichts. Nun, sie sind eben nicht Benny Lightfoot, meinten die Dörfler. Der könnte durch eine Ritze im Gehsteig schlüpfen, unser Benny.«
»Und da hat er sich fünfzehn Jahre lang versteckt?« frotzelte Pascoe.
»Das bezweifle ich«, erwiderte Dalziel mit besorgniserregender Humorlosigkeit. »Aber er könnte sich eine Woche oder so dort verschanzt und nachts nach etwas Eßbarem gesucht haben. Betsy Allgood, die ihm entwischte, sagte, er hätte halb verhungert ausgesehen. Und durchnäßt. Die Dürrezeit hatte gerade aufgehört, und die Höhlen im Neb standen sicher unter Wasser. Ich hatte immer gehofft, er würde sich irgendwo da unten schlafen legen und ertrunken wieder aufwachen.«
Das Funkgerät lärmte, bevor Pascoe diesen interessanten Gedanken durchleuchten konnte, und die Zentrale gab eine aktuelle Zusammenfassung des Falles durch.
Lorraine Dacre, sieben Jahre, war das einzige Kind von Tony Dacre, dreißig, Postfahrer, nicht vorbestraft, und Elsie Dacre, geborene Coe, ebenfalls nicht vorbestraft. Acht Jahre verheiratet, wohnhaft in 7 Liggside, Danby. Lorraine war weder beim Sozialamt noch bei der Fürsorge gemeldet. Die vier Constables der Polizeidienststelle Danby, die Sergeant Clark unterstanden, waren bereits im Einsatz. Drei befanden sich auf dem Berg, um eine erste Suche zu überwachen. Verstärkung war angefordert und werde auf Superintendent Dalziels Kommando hin zur Verfügung stehen. Sergeant Clark werde Superintendent Dalziel im Haus an der Liggside treffen.
Den Dicken nahm das alles ganz schön mit, stellte Pascoe fest. Sollten tatsächlich alte Schuldgefühle an ihm nagen? Oder war da noch etwas anderes?
Er brütete über diesem Gedanken, während sie die etwa zwanzig Meilen bis nach Danby zurücklegten. Es war eine schöne Strecke, die sich durch die in Felder zerstückelte Nutzlandschaft der Mid-Yorkshire-Ebene wand. Der Sommer hatte bald seinen Höhepunkt erreicht, die Felder rechts und links der Straße glänzten grün und golden und versprachen eine reiche Ernte. Auf unbewässertem, vernachlässigtem Boden jedoch zeigten dunkle und ockerfarbene Flächen, welchen Tribut die Dürre bereits gefordert hatte. Und vor ihnen, wo die ausladenden Arme der Anhöhen die Täler umschlossen und keine Bewässerungsanlagen, Kanäle, Sprinkler oder Sprühregen die lechzende Erde befeuchteten, waren das Grün der Farne und die Pracht der Heide von der sengenden Sonne aufgesogen worden, hatte sich die gemäßigte Moorlandschaft in tropische Savanne verwandelt.
»Vor fünfzehn Jahren war es genauso«, unterbrach Dalziel Pascoes Gedanken, als hätte er sie laut ausgesprochen.
»Sie meinen, die Hitze könnte ein Auslöser sein?« fragte Pascoe skeptisch. »Wir hatten seither aber mehrere heiße Sommer. Wenn man sich Derek Purlingstone anhört, könnte man sogar meinen, die Sahara hätte in den letzten zehn Jahren mehr Regen abbekommen als Mid-Yorkshire.«
»Aber es war nie so heiß wie jetzt. Und nie so lange«, beharrte Dalziel.
»Und nur, weil hier eine Dürre ist und Danby das Nachbardorf von Dendale …«
»Der Ort, in den die meisten Bewohner von Dendale umgesiedelt wurden«, fügte Dalziel hinzu. »Und noch etwas. Ein Zeichen …«
»Ein Zeichen!« lachte Pascoe. »Lassen Sie mich raten. Der Name Wulfstan im Radio? Ist es das? Mein Gott, Sir, als nächstes hören Sie noch Stimmen aus dem Jenseits!«
»Noch eine so freche Bemerkung, und Sie hören Stimmen nur noch im Jenseits«, erwiderte Dalziel grimmig. »Wenn ich sage, ein Zeichen, dann meine ich ein Zeichen. Sogar mehrere. Clark rief mich direkt an, weil er wußte, daß es mich interessieren würde. Passen Sie auf. Da ist das erste.«
Er trat mit solcher Wucht auf die Bremse, daß Pascoe ohne Gurt durch die Windschutzscheibe geflogen wäre.
»Mein Gott!« japste er.
Er konnte keinen Grund für diesen plötzlichen Stopp erkennen. Die leere Straße lief unter einer stillgelegten Eisenbahnbrücke hindurch. Er sah fragend zum Dicken hinüber, dessen halb himmelwärts gerichteter Blick eine Art frommer Demutsbekundung andeutete. Doch sein Gesichtsausdruck ließ wenig Frömmigkeit erkennen, und er starrte auch nicht gen Himmel, sondern auf die Brückenmauer.
Darauf hatte jemand mit leuchtendroter Farbe die Worte BENNY IST WIEDER DA! gesprüht.
»Clark meint, das hat jemand letzte Nacht gemacht, bevor die Kleine verschwunden ist«, sagte Dalziel. »In der Stadt gibt’s noch mehr davon. Zufall? Ein dummer Scherz? Vielleicht. Aber die Leute hier, vor allem die aus Dendale, die das sehen und von Lorraine hören, vor allem Leute, die selbst kleine Kinder haben …«
Er beendete den Satz nicht. Es war nicht notwendig. Er denkt, er hat einmal versagt, und er will kein zweites Mal versagen, dachte Pascoe.
Schweigend fuhren sie weiter.
Pascoe dachte an kleine Kinder. An Töchter. An seine eigene Tochter Rosie, die am Meer war und in Sicherheit.
Er dankte Gott, an den er nicht glaubte, für ihre vermeintliche Sicherheit.
Und Lorraine Dacre … Er stellte sich vor, wie sie an einem Tag wie diesem aufwachte … Konnte ein Tag wie dieser einem Kind etwas anderes versprechen als fröhliches und unbeschwertes Spiel?
Er betete, daß der Gott, an den er nicht glaubte, seinen Unglauben dadurch bestrafen würde, daß er die Antwort in Danby bereits parat hielt: in Form von Lorraine Dacre, mittlerweile wieder gesund und munter nach Hause zurückgekehrt und erstaunt über all den Trubel, den sie verursacht hatte.
Neben Pascoe dachte Andy Dalziel – ein Gott, an den Pascoe sehr wohl glaubte – ebenfalls über die Antworten nach, die sie in Danby erwarteten, und er dachte an das kleine Mädchen, das an einem Tag wie diesem womöglich zum letzten Mal aufgewacht war …