»Und sie war überzeugt, daß Benny das Geld bekommen hatte?« meinte Wield.
»Ja, genau das hat sie sich gedacht, als er dann verschwand. Und jetzt, wo sie sicher war, daß er es wirklich gekriegt hat – weil sie mich ja nun gesehen hatte und dachte, ich wär Benny –, da meinte sie, jetzt könnte sie in Frieden sterben. Da hab ich dann wieder versucht, die Sache klarzustellen, und gesagt, daß sie jetzt noch nicht sterben müßte, in Frieden oder wie auch immer, weil ich doch Barney wär und nicht Benny, aber sie war inzwischen gar nicht mehr ganz bei sich, und ich merkte, daß sie’s nicht kapierte. Da bin ich gegangen. Hören Sie, kein Grund, mich so böse anzustarren. Ich will ihr ja erzählen, wer ich wirklich bin. Auf dem Rückweg werd ich wieder bei ihr vorbeifahren und hoffe, daß sie dann ein bißchen fitter ist.«
Er sah Wield und die anderen herausfordernd an, aber dann merkte er, daß in ihren Gesichtern nicht nur Mißbilligung zu lesen war.
»Was ist?« fragte er.
»Schlechte Neuigkeiten«, sagte Dalziel. »Oder auch gute, je nachdem, wie Sie’s sehen wollen. Nach Ihrem Besuch ist sie in Frieden gestorben. Gestern nacht.«
»Ach, Mist, Sie verarschen mich doch, oder? Nein, tun Sie nicht, hm? Mist. Ich hatte wirklich gehofft …«
Er wirkte ehrlich geknickt.
Novello wartete darauf, daß jemand eine Pause vorschlug, doch Dalziel sagte nur: »Keine Bange, Bursche. Zur Beerdigung schaffen Sie’s noch. Und jetzt ist ja auch Geld da, damit’s ’ne schöne Beerdigung wird. Je eher wir die Sache klären, um so eher können Sie sich drum kümmern. Also machen wir weiter, oder? Machen Sie einfach da weiter, wo Sie ›Wark House‹ verlassen haben.«
Die Andeutung, daß er Slater freilasse, sobald er ihnen alles erzählt hatte, war schon beinahe Erpressung, dachte Novello. Nicht, daß das irgendeine Bedeutung hatte. Sie war überzeugt, daß sie den Großteil seiner Geschichte an seiner Stelle hätte erzählen können.
»Ich bin weiter nach Norden, weil ich da ja hinwollte«, fuhr er also fort. »Aber die ganze Zeit hab ich nachgedacht, wie man das so tut, wenn man Auto fährt. Und ich dachte mir, was wäre, wenn Benny das Geld wirklich genommen und sich verkrümelt hätte – warum hatte er sich dann nie bei Granny gemeldet? Ich meine, er hat sie doch mehr geliebt als alles andere in der Welt, oder? Also, was ist mit ihm passiert? Und noch wichtiger: Ist es ihm passiert, bevor oder nachdem er sich das Geld geholt hatte?«
»Sie fragten sich also, ob die Dose immer noch da wäre, wo Agnes sie versteckt hatte, oben unterm Dach von Neb Cottage«, sagte Dalziel.
»Genau. Das war zwar noch ’ne ganze Ecke weiter, aber ich hatte ja nichts Bestimmtes vor. Nur, als ich dann nach Dendale kam, mußte ich feststellen, daß es gar kein Neb Cottage mehr gibt. Ich bin ein bißchen rumgelaufen, aber es war schon so lange her, daß ich da war, daß ich nicht mal sicher sein konnte, ob ich den richtigen Steinhaufen erwischt hatte! Inzwischen hatte mich aber der Ehrgeiz gepackt. Wenn es das Geld noch gab, und Benny nicht mehr, dann hatte ich genauso ein Recht darauf wie jeder andere, oder? Also bin ich in die Bibliothek. Die Dame dort war wirklich sehr hilfsbereit. Ich konnte in den alten Zeitungen alles lesen, was damals im Tal passiert ist. Und dann hat sie mir auch dieses Buch gezeigt, mit den Vorher-Nachher-Landkarten, die ich fotokopieren ließ.«
»Moment mal«, unterbrach Wield, gewissenhaft wie immer. »Lassen Sie uns die genaue Zeit festhalten. Wann sind Sie in Dendale angekommen?«
»Samstag morgen. Hab mir einen Stellplatz an diesem Hof gesucht und bin dann ins Tal gewandert und hab mich umgesehen. Als ich merkte, daß ich so nicht weiterkam, bin ich in die Stadt gefahren. In der Bibliothek war ich, bis sie zugemacht hat, und das war zufällig die Zeit, wo die Kneipen aufmachten, also hab ich noch ’n paar Bier getrunken und was gegessen und bin dann zurück ins Tal. Am Sonntag bin ich in aller Herrgottsfrühe aufgestanden. Diesmal war ich schlauer und bin erst den Neb raufgekraxelt und hab mir die Sache von oben angesehen. Als ich dann sicher war, daß ich die Überreste von Neb Cottage richtig erkannt hatte, bin ich wieder runter und hab angefangen zu buddeln.«
»Warten Sie mal eben«, sagte Dalziel. »Sie sind oben auf dem Grat gewesen. Haben Sie da nur auf die eine Seite runtergeguckt? Nach Dendale? Nicht auch nach Danby, hm?«
»Was? Hey, Sie wollen mir doch nicht immer noch die Sache mit dem vermißten Mädchen anhängen, oder? Hören Sie bloß auf. So wie die Zeitungen das schreiben, rennen Sie alle rum wie die aufgescheuchten Hühner und zeigen mit dem Finger auf den armen Benny, den seit fünfzehn Jahren niemand mehr gesehen hat. Wenn Sie jetzt denken, Sie könnten sich ebensogut an den Bruder halten, werden Sie ganz schön Ärger kriegen!«
Pascoe hätte an diesem Punkt wohl darauf hingewiesen, daß aufgescheuchte Hühner keine Finger haben, dachte Novello.
Dalziel blickte nur sehnsüchtig zum Tonband hinüber, als versuchte er, es durch bloße Willenskraft auszuschalten, um sich Slater richtig zur Brust nehmen zu können.
Doch er sagte freundlich: »Nicht das vermißte Mädchen. Das tote Mädchen, Mr. Slater. Reden Sie einfach weiter. Bitte.«
»Ja. Sicher. Tut mir leid. Sie müssen Ihre Arbeit tun. Ich hoffe wirklich, daß Sie den Mistkerl kriegen«, sagte Slater. »Nein, ich glaube nicht, daß ich auf Danby runtergeguckt habe. Ich war voll und ganz damit beschäftigt, den Ort ausfindig zu machen, wo die fünfzigtausend liegen, wissen Sie noch? Als ich sicher war, die Überreste von Neb Cottage entdeckt zu haben, bin ich runter.«
»Sie meinen, Sie sind zum Paß zurück und dann wieder den Leichenpfad runtergegangen?« fragte Wield.
»Nee. Ich bin direkt runter. Eigentlich verrückt, das ist nämlich ganz schön steil. Ich bin kopfüber runtergefallen und hätte mir beinahe den Knöchel verstaucht. Schließlich landete ich in dieser Schlucht vom White Mare’s Tail. Da ging’s ein bißchen leichter, obwohl ich das bestimmt nicht versucht hätte, wenn der Wasserfall nicht von der Hitze ausgetrocknet gewesen wäre.«
»Und haben Sie sonst jemanden gesehen?«
»Im Tal unten? Erst mal lange Zeit niemanden. Ach, doch, da war jemand oben am Grat, glaube ich. Ich hab noch mal zurückgeguckt und jemanden am Paß gesehen, wo der Leichenpfad vorbeigeht. Aber er war weit weg, und der Grat hatte gerade eine Senke, da hab ich ihn nicht mehr gesehen.«
»Aber später, da waren Leute im Tal?« fragte Wield.
»Ja, sicher. Wanderer, Familien, die Picknick hielten, alle möglichen Leute, die zwischen den Resten vom alten Dorf herumwanderten, das durch die Dürrezeit wieder zum Vorschein kam. Ich wollte keine Zuschauer haben, aber ich hatte sowieso schon die Schnauze voll von der Sache. Ich hatte mit den Händen gegraben und nichts gefunden. Da waren riesige Steinblöcke, für die ich ’ne Brechstange gebraucht hätte oder ’ne Spitzhacke, um sie hochzuheben. Also gab ich mir den restlichen Tag frei, spendierte mir ’n paar Runden und hoffte auf ’n bißchen menschliche Nähe.«
»Und? Erfolg gehabt?« erkundigte sich Dalziel.
»Keine Ahnung. Ich weiß nur, daß ich am nächsten Morgen in meinem Bus aufwachte, die Unterhose falschrum und ’nen Geschmack im Mund wie ein Schweinetrog. Als ich endlich aufhören konnte, mich zu schütteln, dachte ich nur, bloß weg hier. Aber um Mittag rum, als ich ’n paar Liter Tee intus hatte und mir allmählich vorstellen konnte, feste Nahrung zu mir zu nehmen, ohne gleich alles wieder auszuspucken, ging’s mir etwas besser. Also bin ich was essen gefahren, und danach kaufte ich ’ne Spitzhacke und ’ne Brechstange. Ich wartete mit der Arbeit bis zum frühen Abend, wo ich das Tal wieder für mich hätte. Es war beinahe stockdunkel, als ich aufgab. Da wußte ich dann sicher, daß das Geld bestimmt nicht mehr da war.«