Doch dies hatte weniger mit Gesetz zu tun als mit Schuld. Wie sich herausstellte, hing der gute, einfache, bodenständige und lebenslustige Geordie einem religiösen Fatalismus an. Wenn er das Geld nicht behalten hätte, wäre Tommy Tiplakes Firma badengegangen, und er, Geordie, wäre längst fort und weit entfernt von dieser zweiten Runde der Untersuchungen über Kindesmißhandlung gewesen. Dies war seine Strafe. Alles, was der Staatsanwalt ihm vorwerfen würde, käme ihm nur gelegen als öffentlicher Beweis, daß ihn diesbezüglich keine Schuld traf.
Novello merkte, daß er ihr am Ende des Verhörs beinahe schon wieder leid tat. Falls das nicht an seinem angeborenen und unbefangenen Charme lag (was, wie sie sich nachdrücklich versicherte, bestimmt nicht der Fall war), so hätten sie spätestens seine letzten Worte ganz für ihn eingenommen.
»Was mich jetzt wirklich fertigmacht, nachdem ich die ganze Geschichte kenne, ist die Vorstellung, daß der arme Benny im strömenden Regen zurückkommt und in der Ruine von Neb Cottage nach dem Geld sucht, das seine Großmutter ihm versprochen hatte. Armer Kerl!«
»Armer Kerl?« wiederholte Dalziel ungläubig. »Dieser arme Kerl hat möglicherweise drei kleine Mädchen auf dem Gewissen, und selbst wenn das nicht bewiesen ist, so hat er ganz ohne Zweifel die kleine Betsy Allgood in genau der Nacht angegriffen, von der Sie gerade sprachen.«
»Meinen Sie wirklich? Tja, das ist eben Ihre berufsmäßige Art, die Dinge zu sehen, Mr. Dalziel«, erwiderte Turnbull respektvoll. »Ich, ich kannte den Burschen und hielt ihn eigentlich für ganz harmlos. Ich war immer überzeugt, daß er mit den vermißten Mädchen genausowenig zu tun hatte wie ich. Was Betsy Allgood angeht – wahrscheinlich hat er ihr nur einen Riesenschrecken eingejagt. Ein kleines Mädchen verirrt sich in einer Gewitternacht im Tal und steht plötzlich dem Mann gegenüber, den jeder als Buhmann anprangert – natürlich ist sie da zu Tode erschrocken! Ich möchte sogar behaupten, wenn Sie in jener Nacht derjenige gewesen wären, den sie getroffen hat, dann hätte sie sich genauso erschrocken, das arme Mädchen.«
»Verhör beendet«, verkündete Dalziel prompt. »Nichts schlägt mir mehr auf den Magen als ein Fan von Newcastle Umted mit religiösem Touch.«
»Tja dann … Aber eins ist sicher, trotz all der Zeichen, von denen Sie mir erzählt haben: Benny ist nicht zurück, oder? Und ich hatte nichts mit der keinen Lorraine zu tun – und Barney Lightfoot auch nicht, wie sich’s anhört. Dann gehe ich jetzt wohl besser in meine Zelle zurück, wie? Und lasse Sie endlich wieder an Ihre Arbeit. So wie sich’s anhört, haben Sie ja noch ’ne ganze Menge zu tun.«
Siebzehn
Nachdem Turnbull das Verhörzimmer verlassen hatte, saßen die drei Polizisten eine Weile schweigend da.
Schließlich sagte Novello: »Könnte er recht haben, Sir? Könnte Betsy Allgood das falsch mitgekriegt haben? Als sie Benny Lightfoot sah, hat sie sich so erschrocken, daß sie in Panik geriet, und als er sie beruhigen wollte, dachte sie, er wolle sie angreifen.«
»Für ein Mädchen ihres Alters war sie eine der besten Zeuginnen, die ich je hatte«, sagte der Sergeant anerkennend. »Wir hatten vorher schon einige Male mit ihr gesprochen, und nach diesem Angriff war sie genauso ruhig und sachlich und präzise wie davor. Die ganze Geschichte mit ihrer Katze – Sie wollen doch nicht sagen, daß sie sich das nur eingebildet hat, daß sie das alles nur erfunden hat? Für mich klang das damals absolut echt, und das tut es noch heute. Haben Sie die Akte gelesen? Dann wissen Sie ja, was ich meine.«
Ja, dachte Novello. Ich weiß, was Sie meinen. Aber ich bin nicht sicher, daß ich weiß, was ich meine – und das ist vielleicht mehr, als Sie wissen. Oder wissen können. Etwas über die Art und Weise, wie kleine Mädchen denken. Über die Art und Weise, wie sie sich aus Angst die phantastischsten Geschichten ausdenken … wie sie die Realität verbiegen können, um sie ihren eigenen Wünschen und Bedürfnissen anzupassen … wie sie die Welt der Erwachsenen beobachten und analysieren …
Sie rief sich die Dendale-Akte ins Gedächtnis und sah darin einmal nicht das Protokoll einer Untersuchung, sondern eine Art gemusterte Tapete, deren verschlungenes Muster aus dem dreifach wiederholten Motiv eines vermißten Kindes bestand. Aus dieser Sicht entdeckte sie plötzlich etwas, dessen sie sich vorher nur verschwommen bewußt gewesen war.
Sie sagte: »Sir …«
Da ging die Tür auf, und Sergeant Clarks Kopf erschien.
»Entschuldigen Sie, Sir, aber viele Grüße von Mr. Pascoe, und hätten Sie wohl die Freundlichkeit, ihn am Dender Mere zu treffen, also am Stausee?«
»Pascoe?« fragte Dalziel und sah erstaunt zu Wield hinüber. »Was macht der denn schon wieder im Dienst? Wissen Sie was davon, Wieldy?«
»Nein, Sir.«
»Und Sie, Ivor? Sie haben ihn als letzte gesehn.«
»Ja, Sir. Na ja, wie ich Ihnen schon sagte, seiner Tochter ging es viel besser, er meinte, sie sei außer Gefahr. Und er schien ganz aufgeregt über etwas, ich weiß nicht was, einen Ohrring oder so …«
»Was hat er Ihnen gesagt, Nobby?« wollte Dalziel wissen.
»Nicht mehr, als ich Ihnen erzählt habe, Sir. Grüße an Mr. Dalziel, und hätten Sie wohl …«
»Ja, ja, ich kann mir sein gestelztes Gerede auch ohne Ihre Imitationskünste vorstellen«, schnaubte Dalziel. »Tja, ich denke nicht, daß hier heute noch was andres los ist als dieses blöde Konzert, also fahrn wir doch hin und sehn, was unser hauseigener Intellektueller für uns in petto hat. Es sollte zu dieser Stunde allerdings was Spektakuläres sein.«
Das war es auch.
Peter Pascoe hatte auf seinem Weg nach Danby in der Einsatzzentrale angerufen. Dort erwischte er einen einsamen George Headingley, der ihm einen detaillierten Bericht über alle Ereignisse des Nachmittags lieferte.
»Seine Dicklaucht und Wieldy sind also mit nassen Handtüchern auf dem Polizeirevier?« meinte Pascoe, der wußte, daß sogar banale Scherze über polizeiliche Unredlichkeit den Inspector zum Zittern brachten.
»Sie verhören die Verdächtigen, ja«, sagte Headingley.
»Aber dieser Lightfoot, den sie geschnappt haben, sagt, er heiße Barney und nicht Benny?«
»So hat Nobby Clark es erzählt. Und er hält es für wahr. Er kannte Benny gut und meint, daß dieser Kerl ihm zwar ähnlich sieht, aber keinesfalls Benny selbst ist.«
»Interessant«, sagte Pascoe. »Sagen Sie, George, die Froschmänner am Stausee – sind die immer noch da?«
»Die haben gerade angerufen und gefragt, ob Mr. Dalziel eine Genehmigung für Überstunden gegeben hat. Ich sagte nein, also machen sie für heute Schluß.«
Pascoe dachte nach, dann sagte er: »Tun Sie mir einen Gefallen. Rufen Sie sie an und sagen … nein, geben Sie mir doch besser ihre Nummer.«
George war fähig, einen Zusammenbruch sämtlicher Kommunikationsgeräte zu fingieren, nur um der persönlichen Beteiligung an einem Überstundenskandal zu entgehen!
Pascoe wählte die Handy-Nummer des Tauchteams und freute sich, als Tom Perriman selbst dranging. Sie waren alte Bekannte und verstanden sich gut.
»Pete, wie geht’s? Ich hab von deinem Unglück gehört. Wie steht’s denn?«
»Gut«, versicherte Pascoe. »Eine Zeitlang war’s ganz schön haarig, aber ich glaube, jetzt wird alles wieder gut. Hör zu, Tom, ich bin gerade auf dem Weg zu euch, also verschwindet bitte noch nicht gleich.«
»Ach, nein!« protestierte Perriman. »Wir haben gerade alles zusammengepackt.«
»Ist schon gut. Ich will euch nicht mehr tauchen lassen. Aber könntest du wohl schon mal anfangen, bis ich da bin?«
Er erklärte, was er von ihm wollte. Als er fertig war, sagte Perriman: »Und du unterschreibst uns die Überstunden?«