»Ich weiß, daß sie Betsy Allgood ist, die vor langer Zeit erst Vollwaise wurde und dann adoptiert«, sagte Dalziel. »Und daß sie als junger Teenager ’ne Psychiaterin brauchte, um auf die Reihe zu kommen.«
»Genau«, sagte Pascoe. Er war nicht überrascht, daß Dalziel das wußte, doch würde er sich vermutlich sehr wundern, wenn er erführe, wie spät und auf welche Weise Dalziel darauf gekommen war. »Die Psychiaterin war übrigens Paula Appleby.«
»Die aus der Glotze? Die findet, Polizisten sollten Östrogen gespritzt kriegen? Du meine Güte!« meinte Dalziel. »Aber was hat das überhaupt mit unsrer Sache zu tun?«
Pascoe zog ein paar Bögen aus dem Umschlag.
»Dies sind die Abschriften von Betsys Erinnerungen an Dendale und danach, die im Verlauf ihrer Behandlung aufgezeichnet wurden.«
»Au weia«, sagte Dalziel und nahm die Protokolle an sich.
Er überflog sie kurz. Er besaß nicht Wields beinahe fotografisches Gedächtnis, aber er war schnell.
»Tja, nun«, meinte er, als er fertig war. »Das Mädchen sagt da auf etwas erwachsenere Art, was sie uns fünfzehn Jahre vorher in Dendale schon erzählt hatte.«
»Stimmt«, bestätigte Pascoe. »Ich habe hier auch eine Kopie von Dr. Applebys Abschlußbericht an die Wulfstans. Sie schreibt darin, daß die psychische Verfassung des Mädchens eine Folge ihres verzweifelten Bedürfnisses gewesen sei, sich in ihrem neuen Zuhause sicher zu fühlen – nach dem traumatischen Verlust beider Eltern zu einer Zeit, in der sie sich noch nicht von den Ereignissen in Dendale und natürlich auch von ihrem Wegzug von dannen erholt hatte.«
»Von dannen«, wiederholte Dalziel. »Diese Worte hab ich ja vermißt! Aber was mich im Moment am meisten beunruhigt, ist nicht von dannen, sondern von wannen Sie diese Sachen her haben. Sie waren doch nicht mit einer verbogenen Haarnadel an Wulfstans Schreibtisch, wie ich hoffe?«
»Ist schon in Ordnung, Sir, ich hab meine Fingerabdrücke weggewischt«, sagte Pascoe. Dann grinste er und fügte hinzu: »Keine Sorge. Nichts Illegales. Jedenfalls nicht von mir. Jemand hat sie mir gegeben. Arne Krog.«
»Gott sei Lob und Dank«, sagte Dalziel, weniger erleichtert darüber, daß kein Verbrechen begangen wurde, sondern daß es nicht von Pascoe begangen worden war, dem er nicht zutraute, nicht geschnappt zu werden. »Aber warum hat der Smörebröd sie Ihnen gegeben? Und was zum Henker haben sie mit den Knochen da unten zu tun?«
»Da ist noch etwas«, erklärte Pascoe. »Eine überarbeitete Version. Oder vielleicht eher die autorisierte Version. Entscheiden Sie selbst.«
Er nahm drei Bogen blaues liniertes Papier aus dem Umschlag, die mit runder, flüssiger Handschrift in schwarzer Tinte bedeckt waren.
Dalziel nahm sie an sich, legte sie auf das Wagendach und begann zu lesen.
Es gab keine Überschrift.
Ich habe darüber nachgedacht, was ich Dr. Appleby erzählt habe, und ich bin mir nicht sicher, ob ich das alles richtig gesagt habe. Bis zu dem Moment, wo ich runter zum Mere lief und zu rufen anfing »Bonnie! Bonnie!«, da stimmt alles noch. Dann, glaube ich, hörte ich jemanden zurückrufen, und ich weiß, daß das bescheuert ist, aber ich dachte nie, daß es jemand anders sein könnte als Bonnie. Ich war durchnäßt und verängstigt und erst sieben, deshalb habe ich mich nie gewundert, warum mein Kater plötzlich sprechen konnte, und als ich wieder rief und »Hier, hier!« hörte, bin ich einfach auf die Stimme zugelaufen.
Sie kam genau vom Ufer, wo die Ruinen von Heck lagen. Ich kletterte über die eingestürzten Mauern und rief immer weiter, und wieder hörte ich die Antwort, die aus einer Öffnung kam, die halb von einem großen Stein und jeder Menge Geröll verdeckt wurde. Aber ich schaffte es, ein wenig davon zur Seite zu schieben, bis es ausreichte, daß ich durchkriechen konnte. Es war dunkel und naß da unten, und ich wußte, wo ich war, nämlich in dem Keller, wo Mr. Wulfstan seine teuren Weine aufbewahrte. Ich war mit Mary da unten gewesen, und es war wirklich unheimlich, selbst mit Licht an. Jetzt sah es aus wie das Loch in unserem Hof, ich meine, den Hof auf Low Beulah, wo Dad immer den ganzen Dreck runterspülte, als Mam anfing, sich zu beschweren, daß wir wie auf einem Misthaufen leben. Ich habe mir immer angesehen, wie der Dreck und das Wasser runterblubberten, und mir vorgestellt, wie es wäre, da unten zu sein, mit den ganzen Ratten und so. Also hatte ich keine große Lust, in den Keller von Heck zu gehen, aber plötzlich hörte ich keine Stimme, sondern ein langgezogenes Miauen, das ich unter tausend anderen erkannt hätte. Da habe ich nicht mehr lang überlegt. Bonnie war da unten und brauchte meine Hilfe.
Also bin ich durch die Öffnung gekrabbelt. Da lag ziemlich viel Schutt herum, der eine Art Treppe bildete, und als ich weiter nach unten kam, mußte ich ins Wasser steigen. Es war noch nicht hoch, nur bis knapp über meine Knie, und zum Glück war da ein bißchen Licht, das durch die Öffnung schien und sich auf dem Wasser spiegelte, so daß ich nach einer Weile sehen konnte, was es zu sehen gab.
Ich sagte: »Bonnie, bist du da?«, und eine Stimme antwortete: »Hier bin ich«, und da entdeckte ich die Gestalt in einer Kellerecke und erkannte, daß ein Mann da war. Ich strengte meine Augen sehr an und sah Benny Lightfoot, der Bonnie im Arm hielt.
Danach passierte mehr oder weniger das, was ich Dr. Appleby erzählt habe.
Aber als Bonnie sein Gesicht zerkratzte und Benny ihn loslassen mußte und ich mit Bonnie weglief, da erinnere ich mich, wie Benny hinter mir herrannte. Und er kam ziemlich nahe, und ich dachte schon, gleich wird er mich packen, und drehte mich um, weil ich mich wehren wollte. Aber da blieb er plötzlich stehen, und hinter ihm war was Langes, was sich jetzt spannte, und ich sah, daß es eine Kette war, die an einem Ende um seinen Körper und hinten an der Mauer befestigt war.
Er streckte seine Hände nach mir aus, und seine Augen waren groß wie Suppenteller, weil sein Gesicht so mager und abgezehrt war. Und er machte mir gar keine Angst mehr, er sah eher selber so aus, als ob er furchtbare Angst hätte. Er sah ganz traurig und verloren aus. Und er sagte nur: »Hilf mir doch, bitte, hilf mir.«
Da drehte ich mich um und kletterte hinaus, und ich weiß noch, wie ich eine Menge Steine und Zeug auf die Öffnung warf, bevor ich den Berg hinauflief, so schnell ich konnte, egal wohin, bis ich anhalten und mich ausruhen mußte. Da hat mich dann mein Dad gefunden.
Ich glaube, das ist die Wahrheit, weil Dr. Appleby sagte, ich würde mich viel besser fühlen, wenn ich mich an die wahren Begebenheiten erinnere, und ich fühle mich jetzt viel besser, wo ich es jemandem erzählt habe, auch wenn es nicht Dr. Appleby ist. Ich will es aber sonst niemandem sagen, nicht jetzt und auch nicht später. Ich will einfach nur ganz friedlich mit Tante Chloe in London wohnen und zur Schule gehen und lernen und eine gute Tochter sein, wie eine Tochter eben sein soll.
Als Dalziel zu Ende gelesen hatte, wandte er sich ab und blickte auf die Überreste von Heck am Rande des hellen und friedlichen Sees. Er war nicht gerade ein Tagträumer, aber wenn er wollte, konnte er wie ein Filmregisseur seine Phantasie anknipsen. Jetzt ließ er vor seinem geistigen Auge die Abendsonne verschwinden und Regen niederprasseln und Nebel hereinwirbeln. Er stellte sich einen Mann vor, der unter der Erde an eine Mauer gekettet war und dem das langsam ansteigende Wasser bereits bis zu den Oberschenkeln reichte. Und dann stellte er sich vor, er selbst wäre dieser Mann und würde jemanden etwas rufen hören, das klang wie sein eigener Name, so daß er die Hoffnung schneller aufsteigen spürte als das Wasser, nun da Rettung nahte …
Er drückte Wield die Seiten in die Hand und sagte zu Pascoe: »Also gut, Sie Schlaumeier. Alles lief schön und gut, bis Sie wieder ins Spiel kamen. Würden Sie wohl so freundlich sein, mir zu sagen, was Ihrer Meinung nach hier passiert ist?«
»Schön und gut« schien Novello keinesfalls der richtige Ausdruck für alle Aspekte dieses Falls, die sie bearbeitet hatte. Sie sah gierig auf die Bogen blaues Papier in Wields Hand, weil sie wissen wollte, was Dalziel zu dieser unbeholfenen Äußerung veranlaßt hatte.