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»Nein, das macht mir nichts. Geh du nur und setz dich zu Chloe. Sie wird dich schon erwarten.«

Wulfstan protestierte nicht. Er ging einfach. Er mochte auf der Bühne kein Talent sein, aber er wußte sie würdevoll zu verlassen.

In breitem amerikanischem Akzent sagte Krog: »Okay, bringen wir’s hinter uns.«

Er trat zur Seite, um Inger vorbeizulassen.

»Viel Glück, Elizabeth«, sagte er. »Oder, falls du abergläubisch bist: Hals- und Beinbruch.«

Sie bedachte ihn mit einem Blick, der nicht einmal Gleichgültigkeit ausdrückte, und er wandte sich schnell ab.

Der Applaus, der eingesetzt hatte, als Inger am Flügel Platz nahm, schwoll bei seinem Erscheinen deutlich an. Bei kleinem Publikum war er sehr beliebt. Wenn er vor der ganzen Welt hätte singen können, immer vor fünfzig oder sechzig Menschen zur Zeit, an Sommerabenden in Gemeindehallen, wäre er international ein echter Publikumsliebling geworden.

Er lächelte ihnen zu, und sie lächelten zurück, als er sie mit charmanter Leichtigkeit begrüßte. Während er sprach, ließ er seinen Blick über die Reihen schweifen. Viele erkannte er aus früheren Jahren – die Kulturgeier von Mid-Yorkshire, die sich bei diesen musikalischen Appetithappen zum Schmausen niederließen, um gleichzeitig dabei gesehen zu werden. Andere waren Touristen, die froh über einen Abend außerhalb der staubigen Hotelhallen oder unkomfortablen Ferienhütten waren. Darunter verstreut sah er Gesichter, an die er sich noch aus der Zeit erinnerte – oder zumindest halbwegs –, als er auf Heck logiert hatte und Stammkunde im Dorfladen und im Pub gewesen war.

War das nicht Miss Lavery aus der Dorfschule? Und der alte Mr. Pontifex, dem das halbe Dorf gehörte? Und dieses runzlige Gesicht ganz hinten, gehörte das nicht Joe Telford, dem Schreiner, dessen Großzügigkeit ihnen das Konzert hier erst ermöglicht hatte? Und das Paar dort drüben – sie mit der Geduld eines Standbilds, er wie der Granit, aus dem es gefertigt war –, waren das nicht Cedric und Molly Hardcastle?

Sein Blick wanderte nach vorn und traf sich mit dem Chloes in der ersten Reihe, und ihm versagte die Stimme. Sein Instinkt war richtig gewesen. Dies war nicht der richtige Moment für den Mahler-Zyklus. Elizabeth hatte das Konzert sogar damit enden lassen wollen, doch zumindest das hatte er verhindern können. Er wollte, daß das Konzert mit optimistischen Klängen endete, die die Möglichkeit für Zugabe-Rufe boten. Nach den »Kindertotenliedern« würde niemand eine Zugabe wollen. Schließlich hatte sie zugestimmt, die erste Hälfte damit enden zu lassen. Nun sah er, daß selbst dies ein Fehler sein würde. Gott steh uns bei, sie werden wahrscheinlich alle nach Hause gehen!

Doch nun war keine Änderung mehr möglich. Er konnte nur hoffen, daß Vaughan Williams’ »Songs of Travel« – die überhaupt nicht zu den »Kindertotenliedern« paßten, die er aber gerade deswegen ausgewählt hatte – als eine Art Gegenpol wirkten.

Als er zum neunten und letzten Lied kam, wußte er, daß er sich geirrt hatte. Manchmal erschafft das Publikum seine ganz eigene Atmosphäre, auf die der Künstler keinen Einfluß mehr nehmen kann. Er spürte, wie sie sich von der männlichen Kraft und robusten Unabhängigkeit, die manche der Lieder ausdrückten, abwandten und dafür in die fatalistische Melancholie eintauchten, die er immer als sehr nebensächlichen Aspekt der Lieder erachtet hatte. Selbst sein letztes Lied, »I Have Trod the Upward and the Downward Path«, das durch die Unterstützung stoischer Gelassenheit gegenüber den Launen des unfühlenden Schicksals eine Art gemäßigt intellektuelle Version von Sinatras »My Way« war, wirkte irgendwie durchtränkt von Verzweiflung.

Er verbeugte sich, machte keinen Versuch, den Applaus zu verlängern, sondern widmete sich sofort Elizabeths Ankündigung.

Er blieb kurz und sachlich, aber selbst Walter Wulfstan hätte zu seinen schlimmsten Zeiten Schwierigkeiten gehabt, die erhitzte Atmosphäre gespannter Erwartung abzukühlen. Und selbst wenn er es geschafft hätte, hätte Elizabeths Erscheinen alles wieder zunichte gemacht. Diejenigen, die sie nur von Fotos kannten, wurden von der Realität geblendet. Und diejenigen, die sich noch an das kleine, dicke, häßliche Kind erinnerten, schnappten hörbar nach Luft, als sie die schlanke, elegante Frau mit dem aufrechten Gang eines Models, dem enganliegenden, knöchellangen schwarzen Abendkleid und dem langen blonden Haar sahen, die ihr die Aura einer tragischen Königin verliehen.

Krog drehte sich um und verließ die Bühne. Er vermutete, daß er auch grimassierend rückwärts hätte abschwirren können, ohne daß es jemandem aufgefallen wäre. Irgend jemand begann zu klatschen, doch der Applaus kam vereinzelt und war bald verhallt. Es herrschte Stille. Draußen schwammen Geräusche vorbei wie Fische an einer Tiefseekamera, wie Bewohner einer vollkommen anderen Welt.

Elizabeth hob zu sprechen an. Ihr Yorkshire-Akzent war so erschreckend wie das Brüllen einer Lerche.

»Vor fünfzehn Jahren sind drüben auf der anderen Seite des Neb drei kleine Mädchen, Freundinnen von mir, verschwunden. Ich singe diese Lieder für sie.«

Inger spielte die kurze Einleitung, dann begann Elizabeth zu singen.

»And now the sun will rise as bright

As though no horror had touched the night.«

Die ersten Zeilen des ersten Liedes reichten aus, um Krog zu beweisen, daß er sowohl recht als auch unrecht gehabt hatte.

Unrecht insofern, als Elizabeth entgegen seiner Erwartung reif für diesen Zyklus war. Sie sang so klar und unumwunden direkt, daß ihre Aufnahme auf der CD dagegen angestrengt und gekünstelt wirkte. Und die Klavierbegleitung war die perfekte Ergänzung zu diesem Timbre, das unter den volleren Klängen eines ganzen Orchesters begraben worden wäre.

Und recht hatte er damit gehabt, daß sie die Lieder hier niemals hätte singen dürfen. In der Stille nach dem ersten Lied hörte er ein unterdrücktes Schluchzen. Und viele der Gesichter, die er von seinem Platz aus sehen konnte, wirkten eher schmerzverzerrt als verzückt. Er hätte sie die Lieder doch am Ende singen lassen sollen, denn hiernach würde die zweite Hälfte des Programms mit seiner Mischung aus Liebesduetten und klassischen Evergreens trivial und geschmacklos anmuten.

Er betrachtete Chloe Wulfstans Gesicht. Der Schmerz, den er dort entdeckte, wäre Grund genug gewesen, die Lieder zu streichen, selbst wenn das restliche Publikum die Aufführung als hervorragendes Beispiel der Liederkunst erachtete. Es war fast zwanzig Jahre her, daß er sie bei seinem allerersten Auftritt im Rahmen des Festivals kennengelernt hatte. Für einen jungen Sänger am Anfang seiner Karriere war diese Art von Engagement ein notwendiger Schritt auf dem Weg zum Ruhm gewesen. Und als er die junge Ehefrau seines Gastgebers sah und den vertrauten Kloß im Hals spürte, das erste Anzeichen von Begierde, hatte er es instinktiv einfach bei ihr versucht, da er bezweifelte, eine zweite Chance zu bekommen.

Er hatte sein ganzes Programm abgespult, doch sie hatte nur gelächelt – amüsiert, wie sie später zugab, über seine blumige kontinentale Art – und sich wieder ihrer Hauptaufgabe gewidmet, ihrer kleinen Tochter.

Er hatte eine Weile über sie nachgedacht, aber nicht lange, und als Wulfstan ihn im folgenden Jahr erneut einlud, sagte er zu, nicht wegen Chloe, sondern weil er es sich noch nicht leisten konnte, solch ein Angebot abzusagen.

Als er sie wiedersah, war es wie ein Nachhausekommen. In jenem Sommer wurden sie Freunde. Und seine Beziehung zu Wulfstan änderte sich ebenfalls. Ein weiterer Grund für seine Zusage war gewesen, daß er erkannt hatte, wieviel Einfluß Wulfstan in ganz Europa hatte. Nicht die Art von Einfluß, die ihm die Türen zur Mailänder Scala oder Pariser Oper oder zum Bayreuther Festspielhaus öffneten, aber er hatte nützliche Verbindungen zu Veranstaltern, die ihm Arbeit und ein gewisses Maß an Bekanntheit verschaffen konnten. Auf persönlicher Ebene hatte er mit dem Mann so seine Schwierigkeiten, was die Absicht, seine Frau zu verführen, hätte erleichtern müssen; nun aber, da er ihn in gewissem Sinne als Gönner betrachtete, wirkte sein Selbstinteresse gewissermaßen als kalte Dusche. Daß er und Chloe zusammenkamen, war dann beinah purer Zufall. Bei seinem dritten Aufenthalt gingen sie beide unterhalb des Neb spazieren. Als sie einen Bach überquerten, rutschte er aus, fiel gegen sie, riß sie um, und sie küßten sich, als gäbe es nichts anderes zu tun.