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So hatte es angefangen. Für sie war es »das einzig Wahre«, was immer das bedeuten mochte, und es hätte ihn womöglich beunruhigt, wenn sie nicht von Anfang an klargemacht hätte, daß das Wohl ihrer Tochter an erster Stelle stand. Bis sie erwachsen wäre, würde Chloe nicht einmal daran denken, Walter zu verlassen. Aber sie war nicht dumm. Als er beteuerte, seine Liebe zu ihr sei so stark, daß er gern allezeit auf sie warten würde, erwiderte sie: »Das ist sehr nobel, Arne, aber es könnte doch auch sein, daß du dich nur freust, gleichzeitig mich und deine Freiheit zu haben.«

Was ohne die Tragödie vor fünfzehn Jahren geschehen wäre, konnte er nur vermuten. Was er allerdings mit Sicherheit wußte, war, daß ihr Kummer und die Trennung ihn auf eine Weise berührten, die er nicht für möglich gehalten hätte, und sein Leben geriet zu einer Statistenrolle, bis Chloe durch die Krise mit Elizabeth wieder zu ihm zurückkehrte.

Nun schien es nichts mehr zu geben, das sie bei Wulfstan hielt. Doch sie hatte sich um die Entscheidung gedrückt und war schließlich mit ihm nach Mid-Yorkshire zurückgekehrt.

Was Krog dazu gebracht hatte, im Arbeitszimmer seines Gastgebers herumzustöbern, wußte er nicht. Er hatte nichts Bestimmtes im Sinn gehabt, nur eine vage Hoffnung, daß er etwas finden könnte, das ihm die Macht verlieh, Chloe und Walter auseinanderzubringen. Inger hatte ihn beim Spionieren erwischt, auf ihre übliche unbeteiligte Art jedoch nichts gesagt und die Tür wieder geschlossen. Als er die Abschriften gefunden und sich ihre Bedeutung klargemacht hatte, war er zunächst entsetzt gewesen. Daß ein Mann sich Rache für die ermordete Tochter wünscht, konnte er nachvollziehen. Daß er einen Verdächtigen, gegen den nichts Handfestes vorlag, in einem Kellerloch ankettet und dort ertrinken läßt, konnte er nicht im mindesten verstehen. Und die andere große Frage, die er sich nicht zu stellen getraute, weil er Angst vor der Antwort hatte, war, wieviel Chloe von all dem wußte.

Gar nichts, versicherte er sich selbst … das konnte er nicht glauben … nichts! Vielleicht hatte er das alles auch mißverstanden, und es waren nur die abgedrehten Phantasien einer verwirrten Heranwachsenden. Oder vielleicht hatte Walter gar nichts mit dem angeketteten Benny zu tun. Doch als Krog ihm am Sonntag morgen den Leichenpfad hinauf folgte, und heute wieder, und ihn dort oben stehen sah, wie er auf die Ruinen von Dendale blickte, da war er sicher gewesen.

Ob seine darauffolgende Handlung richtig gewesen war, wußte er allerdings nicht. Mittlerweile bereute er, Pascoe den Umschlag gegeben zu haben. Warum hatte er sich selbst zum Instrument gemacht, wo er doch einfach Beobachter hätte bleiben können? Denn jetzt, als sein Blick vom lieblichen und geliebten Gesicht der Ehefrau zum gramzerfurchten Gesicht des Ehemannes wanderte, sah er dort deutlich die Spuren von Reue, aber auch Versöhnung mit den Folgen seiner bald zu entdeckenden Tat.

Der Zyklus bestand aus nur fünf Liedern, doch jedes erschuf eine eigene zeitlose Welt des Kummers. Die Zuhörer lauschten so gebannt, daß niemand sich umdrehte, als während des vorletzten Liedes die rückwärtige Tür aufging und drei Männer und eine Frau in die Kapelle traten.

»Don’t look so pale! The weather’s bright.

They’ve only gone to climb up Beulah Height.«

Der Ortsbezug drehte die Schmerzensschraube noch eine Windung weiter. Und die Wiederholung in den letzten Zeilen – mit ihrer herzzerreißenden falschen Heiterkeit, ihrer aus schierer Verzweiflung geborenen Hoffnung – war zuviel für Mrs. Hardcastle, die gegen den steifen Körper ihres Mannes sank und leise vor sich hin schluchzte.

»We’ll catch up with them on Beulah Height

In bright sunlight.

The weather’s bright on Beulah Height.«

Dann, beinahe ohne Pause, stürzte sich Inger Sandel in die aufwühlende Begleitung des letzten Liedes.

Von seinem Standort hinter der leicht geöffneten Sakristeitür aus konnte Krog die Reaktionen der Neuankömmlinge beobachten. Drei von ihnen kannte er. Dalziels steinernes Gesicht verriet nichts von dem, was hinter seinen kleinen Schweinsaugen vorging. Wields zerfurchtes Antlitz war ebenso undurchsichtig, vermittelte jedoch den Eindruck gebannten Zuhörens. Pascoe war sichtlich bewegt und konnte seine Gefühle nicht verbergen. Und die Frau, die Krog nicht kannte – jung und attraktiv, aber keine auffallende Schönheit – nahm mit polizeilicher Routine ihre Umgebung in sich auf, ohne auf die Musik zu reagieren, die ihre Ohren hörten.

Aufruhr und Konflikt und die Bilder von Unwetter und Schuld und Gegenanklage begannen nun zu verblassen, als der Gesang sich darüber erhob wie ein verirrter Wanderer, der endlich Ruhe und Schutz erreicht.

»By no foul storm confounded«

Elizabeth hielt den Kopf leicht nach hinten geneigt und blickte über die Köpfe ihres Publikums hinweg.

»By God’s own hands surrounded«

Krog konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber er wußte, daß es so strahlend war wie das einer Heiligen im Augenblick des Märtyrertodes, wenn die Tore des Himmels sich für sie öffnen.

»They rest«

Sie ruhen. Laß sie ruhen. Ja, dies war ein Requiem.

»They rest …«

Vielleicht hatte sie recht und er unrecht. Wenn nur die Polizei nicht da wäre … und wessen Schuld war das? Würde Pascoe seine Informationsquelle verraten? Nicht, daß es wichtig wäre. Chloe würde es wissen. Ohne es gesagt zu bekommen, würde sie es wissen.

»… as in their father’s house.«

In des Vaters Haus? Es hieß doch: in der Mutter Haus! Ein Versprecher? Vielleicht. Aber wer merkte das schon?

Das Klavier wand seinen Weg durch das lange melancholische Finale, das ein Siegel der friedlichen Versöhnung auf all die vorangegangenen Turbulenzen von Verlust und Kummer setzte. Als es verklungen war, sprach niemand ein Wort. Niemand applaudierte.

So sollte es sein. Jetzt sollten alle einfach aufstehen und nach Hause gehen.

Dann ertönte ein Geräusch wie ein Donnerschlag. Und noch einmal. Und noch einmal.

Es war der dicke Polizist, der abscheuliche Dalziel, der dastand wie der Inbegriff des Mißklangs, seine riesigen Hände zusammenschlug und damit beinahe eine Parodie des Applauses vollführte.

Sechsmal tat er dies. Köpfe drehten sich her, doch niemand fiel in sein Klatschen ein. Die junge Frau betrachtete Dalziel mit einer Mischung aus Bewunderung und Staunen. Die Augen des jungen Polizisten schlossen sich für einen Moment vor Scham, dann nahm er eine CD auf und studierte eingehend das Cover. Nur der häßliche Wield zeigte keine Reaktion, sondern starrte unverwandt auf Elizabeth.

Nach dem letzten Klatschen begann Dalziel zu sprechen.

»Hey, das war toll, Mädchen«, sagte er mit leuchtenden Augen. »Eine gute Ballade hör ich wirklich gern, wenn sie mit Gefühl gesungen wird. Ist jetzt Teepause? Das Wetter, tz! Mein Hals ist so trocken wie’n ausgedörrter See.«

Neunzehn

»Was ist Wahrheit?« fragte Peter Pascoe.

Manchmal ist sie bei dir, hell wie ein Stern, der allein am Himmel steht.