Vier
Die kleine Lorraine wacht früh auf, aber die Sonne war noch früher wach.
Dies sind die langen Sommertage, die sich endlos durch jede glückliche Kindheit ziehen; wenn man in goldener Luft erwacht und tausend Abenteuer später beim Einschlafen von einem Licht gestreichelt wird, das selbst die dichtesten Vorhänge nur in eine leichte Dämmerung verwandeln können.
Im Haus rührt sich nichts. Heute ist Sonntag, der einzige Tag der Woche, an dem Mam und Dad sich den Luxus des Ausschlafens gönnen.
Sie steigt aus dem Bett, zieht sich schnell und leise an und geht dann in die Küche hinunter, wo Tig sie aufgeregt ankläfft. Sie gebietet ihm herrisch Einhalt, und er verstummt. Er ist sehr gut erzogen; Dad hat darauf bestanden. »Nur eins ist schlimmer als ein ungehorsamer Hund, nämlich eine ungehorsame Tochter«, sagte er. Und Mam, die weiß, daß Lorraine ihn um den kleinen Finger wickeln kann, lächelte ihr hintergründiges Lächeln.
Ein schnelles Frühstück, dann rauf auf einen Schemel, um den obersten Riegel der Hintertür aufzuschieben, und hinaus in den Garten mit dem eifrigen Tig dicht auf den Fersen. Die Leine ist nicht nötig, denn der Garten führt direkt auf die Gemeindewiese Ligg Common. Trampelpfade winden sich durch Stechginster und Baumheide, bis sie ans Ufer des Ligg Beck kommen, dessen sonst wild sprudelnde Wasser durch die Trockenheit zu einem kaum erkennbaren Rinnsal verebbt sind.
Aber egal. Der ausgetrocknete Bachlauf verbreitert den Pfad, der nebenher verläuft und allmählich den Berg hinaufführt, wo es für Tig Kaninchen und Schmetterlinge zum Jagen gibt und für Lorraine winzige Orchideen, die sie suchen kann, während um sie herum die Feldlerchen aus den Heidenestern aufschwirren und ihre Zuversicht hinaustirilieren, daß die Sonne immer scheinen und der Himmel ewig blau sein wird.
Tony Dacre erwacht eine Stunde später. Die Sonne erfüllt den Raum mit Licht und Wärme. Er setzt sich auf, erinnert sich, daß Sonntag ist, und lächelt. Durch seine Bewegung hat er Elsie, seine Frau, halb aufgeweckt, und sie rollt sich zur Seite und öffnet die Augen einen Spalt. Bei diesem Wetter schlafen beide nackt. Sie ist dünn, fast mager, und die Form ihres Körpers unter dem dünnen Laken läßt seinen Puls höher schlagen. Er neigt sich über ihren Mund, doch sie schüttelt den Kopf und formt mit den Lippen das Wort »Tee«. Er schwingt die Beine aus dem Bett, steht auf und zieht seine Unterhose an. Er ist nicht prüde, findet jedoch, daß Eltern nicht nackt vor ihren Kindern herumspazieren sollten.
Als er in die Küche kommt, sieht er an einem schief geschnittenen Brotlaib, einem offenen Glas Himbeermarmelade, einem halbleeren Glas Milch und Krümelspuren bis zur Küchentür, daß seine Vorsichtsmaßnahme unnötig war. Er blickt hinaus in den Garten. Von Lorraine keine Spur. Er schüttelt den Kopf und schmunzelt. Dann macht er Tee und nimmt zwei Tassen mit nach oben.
Elsie setzt sich zum Trinken auf. Hin und wieder wendet Tony den Kopf, blickt auf ihre kleinen Brüste mit den dunklen Knospen und den Tee in ihrer Tasse. Schließlich hat sie ausgetrunken.
Sie beugt sich über ihn, um die Tasse auf seinen Nachtschrank zu stellen. Als sie sich aufrichtet, schließt er sie in die Arme. Sie lächelt zu ihm hoch. Er sagt: »All das Geld, das ich für Gin verschwendet habe, wo ich dich für eine Tasse Tee hätte kriegen können!«
Sie lieben sich. Später beim Rasieren im Bad singt er ein Lied. Als er ins Schlafzimmer zurückkommt, ist sie bereits unten. Er zieht sich an und folgt ihr nach.
Sie runzelt die Stirn und sagt: »Lorraine hat schon gefrühstückt.«
»O ja, ich weiß.«
»Ich mag es nicht, daß sie das Brotmesser benutzt. Es ist sehr scharf. Und daß sie sich auf den Schemel stellt, um die Tür aufzumachen. Wir müssen mit ihr reden, Tony.«
»Werd ich tun«, verspricht er.
Sie schüttelt besorgt den Kopf und sagt: »Nein, ich werde es tun.«
Sie frühstücken. Es ist erst halb zehn. Die Sonntagszeitung kommt. Er setzt sich ins Wohnzimmer und liest den Sportteil.
Draußen auf der Straße hört er Mädchenstimmen. Nach einer Weile steht er auf und geht zur Vordertür.
Die Mädchen spielen Seilhüpfen. Zwei schlagen ein langes Seil. Die anderen laufen an einem Ende hinein, hüpfen bis ans andere Ende vor und springen mit dramatisch rudernden Armen wieder hinaus.
Seilspringer und Seilschwinger singen dabei in monotonem Rhythmus:
»Ein Fuß! Zwei Fuß! Linker Fuß! Rechter Fuß!
Drei Fuß! Vier Fuß! Guter Fuß! Schlechter Fuß!
Keiner läuft so schnell wie Benny Leichtfuß!
Und RAUS – GEHT – SIE!«
Tony ruft: »Sally!«
Sally Breen, ein untersetztes Mädchen, das zwei Häuser weiter wohnt, sagt: »Ja, Mr. Dacre?«
»Hast du Lorraine gesehen?«
»Nein, Mr. Dacre.«
Der Gesang erstirbt, und die Mädchen sehen einander an. Sie schütteln die Köpfe.
Tony geht ins Haus zurück. Elsie ist oben und macht die Betten. Er ruft die Treppe hinauf: »Ich geh ein bißchen spazieren, Schatz! Will mal mit dem alten Joe über den Bowling Club reden.«
Er geht durch die Hintertür nach draußen, durch den Garten, über die Gemeindewiese. Er ist oft genug mit seiner Tochter spazierengegangen und kennt ihre Lieblingsroute. Bald erreicht er das ausgetrocknete Flußbett und steigt an dessen Ufer mit gleichmäßigen Schritten den Berg hinauf.
Nach einer Weile, als er sicher ist, daß keiner an der Liggside ihn hören kann, fängt er an, sie zu rufen.
»Lorraine! Lorraine!«
Lange Zeit hört er gar nichts. Dann ein fernes Bellen. Zitternd vor Erleichterung eilt er weiter, über einen Hügel. Weiter hinten sieht er Tig, der allein und humpelnd auf ihn zukommt.
Oh, nun singen die Feldlerchen wie Spione aus luftigen Höhen: Sie ist hier! Sie ist verletzt! Sie ist hier! Sie ist verletzt!, doch die gaukelnden Schmetterlinge streuen die Botschaft: Sie ist für immer fort.
Er kniet sich neben den verletzten Hund und fragt: »Wo ist sie, Tig? SUCH!«
Doch das Tier duckt sich von ihm fort, als fürchte es, geschlagen zu werden.
Er läuft weiter. Eine halbe Stunde lang streift er über den Abhang, sucht und ruft. Schließlich, als seine Hoffnung hier versiegt, erfindet er in der Ferne neue Hoffnung und eilt den Hang hinunter. Tig liegt immer noch da, wo er ihn gefunden hat. Er hebt ihn hoch, ignoriert sein schmerzerfülltes Aufjaulen.
»Sie ist bestimmt wieder zu Hause, wart’s nur ab, alter Junge«, flüstert er dem Tier ins Ohr. »Wart’s nur ab.«
Aber in seinem Herzen weiß er, daß Lorraine den Hund niemals allein und verletzt auf dem Berg gelassen hätte.
Im Haus erledigt Elsie, die bereits unruhig wird, ohne sich nach dem Grund ihrer Unruhe zu fragen, die Handgriffe zur Zubereitung des sonntäglichen Mittagsmahls, so als könnte sie durch ihre Weigerung, vom gewohnten Arbeitsablauf abzuweichen, die Ereignisse wieder in ihre gewohnte Bahn lenken.
Als die Tür aufgestoßen wird und Tony hereinkommt, den Hund im Arm, und fragt: »Ist sie wieder da?«, wird sie weiß wie das Mehl an ihren Händen.
Alle Fenster im Haus sind offen, um die schwere Luft zu bewegen. Draußen auf der Straße sind die Kinder noch immer beim Spielen. Und während sich Mann und Frau jeweils am Blick des anderen über den Küchentisch hinweg festhalten und jeder vom anderen erwartet, daß er lächelt und sagt: alles ist gut, wehen die Worte des Singsangs zwischen ihnen hin und her.
Ein Fuß! Zwei Fuß! Linker Fuß! Rechter Fuß!
Drei Fuß! Vier Fuß! Guter Fuß! Schlechter Fuß!
Keiner läuft so schnell wie Benny Leichtfuß!