»Also gut, dann legen wir die Karten mal auf den Tisch«, sagte er mit der gewinnenden Offenheit eines Glücksspielers, der gezinkte Karten im Ärmel, im Kragen, im Hosenbund und hinter dem Hutband hatte. »Wer fängt an?«
Schweigen. Was zu erwarten gewesen war. Pascoe fing Wields Blick auf und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der Sergeant nickte und ging leise zum Ausgang.
»Lampenfieber, wie?« meinte Dalziel. »Na schön. Detective Constable Novello, warum versuchen Sie nicht, uns auf die Sprünge zu helfen?«
Gott im Himmel! dachte Novello sowohl flehentlich als auch fluchend.
Sie hatte voller Spannung beobachtet, wie der Dicke die Sache anging. Würde er mit der Vergangenheit oder der Gegenwart beginnen? Würde er verraten, was sie herausgefunden hatten, oder das meiste zurückhalten und die anderen damit herausrücken lassen?
Sie hatte sich darauf eingestellt, kritische Anmerkungen zu machen, Anregungen zu geben. Nun stand sie vor der ganzen Klasse und bekam die Kreide in die Hand gedrückt.
Gott im Himmel, wiederholte sie, diesmal nur als beschwörende Bitte.
Ihre Gedanken rasten zwischen dem angeketteten Skelett, den blauen Briefbogen, Barney Lightfoots Geschichte und Geordie Turnbulls Geständnis hin und her.
Dann dachte sie, das hängt alles mit der Vergangenheit zusammen. Scheiß auf die Vergangenheit! Der dicke Andy mag darin verhaftet sein, ich aber nicht. Der Fall, an dem ich arbeite, ist der Mord an Lorraine Dacre, sieben Jahre.
Sie sagte: »Mr. Wulfstan, gibt es etwas, das Sie Ihrer Aussage über den Besuch in Danby letzten Sonntag hinzufügen möchten?«
Sie konzentrierte sich ganz auf Wulfstans hagere Gesichtszüge, teils um dem Drang zu widerstehen, Anerkennung in Dalziels Blick zu suchen, andererseits aber auch, um jedes verräterische Zucken registrieren zu können. Eine Emotion huschte wie ein Nebelschleier über seine passiven Züge, doch sie konnte ihre Bedeutung nicht erkennen. Am ehesten sah sie aus wie … Erleichterung?
Er sagte: »Wie ich Mr. Dalziel gesagt habe, stieg ich den Leichenpfad hinauf und stand eine Weile oben, um mir Dendale anzusehen.«
»Und dann?«
»Dann, als ich mich umdrehte, um wieder in Richtung Danby zu gehen, blickte ich über den Grat zum Neb. Und ich sah einen Mann.«
»Einen Mann? Was für einen Mann? Das haben Sie in Ihrer Aussage nicht erwähnt. Warum nicht?«
Er berührte mit der Hand sein Gesicht, als müsse er sich vergewissern, daß er aus Fleisch und Blut bestand.
Dann sagte er leise: »Weil es Benny Lightfoot war.«
Novello schnaubte verärgert. Wollte der Mistkerl sie verarschen? Sich hinter der ganzen BENNY IST WIEDER DA!-Hysterie verschanzen? Nun, sie besaß die nötigen Mittel, ihm diesen lächerlichen Schild wegzustoßen!
Mit vor Sarkasmus triefender Stimme entgegnete sie: »Sie haben Benny Lightfoot gesehen? Tja, das muß wirklich ein ganz schöner Schock gewesen sein, Mr. Wulfstan. Wo Sie doch als einziger Mensch ohne jeden Zweifel wissen, daß er tot ist.«
Falls sie rundum Schockiertheit und Entsetzen erwartet hatte, wurde sie enttäuscht.
Wulfstan schüttelte matt den Kopf und wiederholte: »Ich habe ihn gesehen.«
Die drei Frauen zeigten keine oder kaum eine Regung.
Und Arne Krog sagte: »Es stimmt. Da war ein Mann.«
Und zu Wulfstan gewandt fügte er beinahe entschuldigend hinzu: »Ich bin dir gefolgt.«
Diese Bestätigung irritierte Novello eine Sekunde lang, bis sie die Erklärung fand. Natürlich war da ein Mann gewesen, aber nicht Benny, sondern Barney, der oben am Neb entlanggewandert war, um das Dorf aus der Vogelperspektive zu sehen.
Wulfstan blickte leicht überrascht zu Krog. Nun ja, es war schon eine Überraschung, wenn man aus unerwarteter Ecke die Erscheinung eines Geistes bestätigt bekam.
»Was haben Sie dann getan, Mr. Wulfstan?« fragte Novello weiter.
»Ich ging den Grat entlang, um ihn einzuholen.«
»Und haben Sie ihn eingeholt?«
»Nein. Er verschwand.«
»Sie meinen, wie ein Rauchwölkchen?« höhnte sie.
»Nein. Am Hang gibt es jede Menge Senken und Spalten. Er verschwand außer Sicht und tauchte nicht wieder auf. Ich nahm an, daß er zur einen oder anderen Seite abgetaucht war.«
Jetzt ahnte sie, worauf er hinauswollte. Benny/Barney war zur Danby-Seite hin verschwunden und hatte Lorraine getroffen und … Netter Versuch, Walter. Aber er funktionierte nicht.
Novello meinte, wieder alles unter Kontrolle zu haben, und fuhr fort, das Terrain zu ebnen.
»Was ist mit Ihnen, Mr. Krog? Haben Sie gesehen, wohin der Mann verschwand?«
»Nein. Ich sah, wie Walter in seine Richtung ging, dann kehrte ich auf dem Leichenpfad um.«
»Und haben Sie Mr. Wulfstan noch mal gesehen?«
»Erst später am Tag in seinem Haus.«
Jetzt bist du also allein, Wulfstan. Nur du und ich.
Und das Kind.
»Also, was geschah dann, Mr. Wulfstan?« fragte sie ruhig. »Sind Sie den Grat entlanggegangen und haben rechts und links nach dem Mann gesucht, denn Sie für Benny Lightfoot hielten? Und haben Sie zum Ligg Beck hinuntergeblickt und dort unten jemanden gesehen? War es ein Mädchen, das Sie gesehen haben, Mr. Wulfstan?«
Vor Gericht würde das wohl Beeinflussung des Zeugen heißen. Sie hoffte beinahe, er würde sich nicht beeinflussen lassen, damit sie ihn voller Wut in die Enge treiben könnte.
Doch er leugnete es nicht.
»Ja«, sagte er. »Ja, ich habe hinuntergeblickt. Und ein kleines Mädchen gesehen. Ich habe Mary gesehen.«
»Mary?« Novello war einen Moment lang verwirrt. Gegen ihren Willen warf sie seitwärts einen Blick auf die Männer. Pascoe nickte ihr aufmunternd zu. Wield, der mit der Dendale-Akte und dem großen Umschlag in den Händen wieder bei ihnen saß, war undurchschaubar wie immer. Dalziel starrte auf Wulfstan und runzelte die Stirn.
Da wandte auch sie ihren Blick wieder Wulfstan zu. Er wollte sich also immer noch herauswinden, wie? Novello sammelte Kraft für einen direkten Angriff.
»Kommen Sie, Mr. Wulfstan! Sie meinen doch Lorraine, oder nicht? Sie blickten ins Tal und sahen Lorraine Dacre.«
Es knirschte und krachte, als Dalziel sich auf seinem Stuhl vorbeugte.
»Nein, Herzchen«, korrigierte er freundlich. »Er meint Mary. Stimmt’s, Mr. Wulfstan? Sie guckten zum Ligg Beck runter und sahen Ihre Tochter Mary. Und sie sah aus wie das letzte Mal, als Sie sie gesehn hatten, vor fünfzehn Jahren.«
Und zum erstenmal, seit sie sich kannten, betrachtete Wulfstan Andy Dalziel beinahe voller Dankbarkeit und sagte: »Ja. Das stimmt, Superintendent. Ich habe meine Mary gesehen.«
Zwanzig
Der Himmel schimmert wie aufgeplusterte Seide, die Sonne taumelt trunken, der felsige Grat unter seinen Füßen federt wie ein Trampolin. Nach so vielen Jahren, nach so viel Schmerz ist sie da, so blond und strahlend, wie er sie in Erinnerung hat, keinen Tag älter, kein bißchen verändert. Der Geist des Mannes, der sie ihm genommen hatte, brachte ihn zu ihr zurück.
Er überlegt keine Sekunde, warum sie in all den Jahren nicht älter geworden ist. Er fragt sich nicht, warum sie in diesem Tal spaziert anstatt in Dendale, wo sie damals verschwand. Er denkt keinen Augenblick über den steilen Abhang nach. Statt dessen rast er den Berg hinunter wie ein Bergläufer in Bestform. Leichtfüßig springt er von Vorsprung zu Vorsprung. Unter ihm, am Rand der tiefen Schlucht, durch die der Beck außer Sicht fließt, pflückt sie Blumen und denkt an nichts als an sich selbst und die Blumen zu ihren Füßen und vielleicht noch an den kleinen Hund neben sich, der Bienen und Fliegen und die Luft anbellt.
Er ruft ihren Namen. Er ist zu sehr außer Atem, um laut zurufen, aber er ruft trotzdem. Der Hund hört ihn als erstes und sieht ihn an, während sein Bellen sich in tiefes Knurren verwandelt. Er ruft erneut, lauter diesmal, und jetzt hört das Mädchen ihn.