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»Mary!«

Sie dreht sich um und blickt nach oben. Sie sieht, wie ein Wesen mit weit aufgerissenen Augen auf sie zustürmt, mit den Lippen seltsame Worte formt, die Arme ausbreitet und mit entkräfteten Beinen zu taumeln beginnt. Sie läßt die Blumen fallen. Sie will weglaufen. Er ruft wieder. Sie rennt blindlings davon. Der Rand der Schlucht kommt näher. Sie blickt zurück und sieht seine ausgestreckten Arme, die sie packen wollen.

Und sie fällt.

»Als ich bei ihr ankam, konnte ich zwei Dinge feststellen. Ich sah, daß sie nicht Mary war. Und ich sah, daß sie tot war.«

Novello starrte ihn wütend an und versuchte, ihm nicht zu glauben. Es gelang ihr nicht. Sie hatte sich ein Monster in der Falle gewünscht, nicht einen übergeschnappten Vater. Sie wollte gerade einige skeptische Fragen stellen, da bedachte Dalziel sie mit einem warnenden Blick und sagte: »Und was haben Sie dann getan?«

»Ich hob die Leiche hoch und begann, die Schlucht hochzuklettern. Ich glaube, ich wollte sie ins Tal hinunter tragen und Hilfe suchen, obwohl ich bereits wußte, daß jede Hilfe zu spät kam. Auf halbem Weg, auf einem Vorsprung, griff der Hund mich an und biß mir in die Knöchel. Ich mußte stehenbleiben und ihn irgendwie loswerden. Schließlich habe ich ihn so fest getreten, daß er auf den Grund der Schlucht fiel und dort knurrend liegenblieb. Da bemerkte ich plötzlich diese Öffnung hinter einem Felsblock. Als ich hineinblickte, sah ich, daß es eine Art Versteck für das Mädchen gewesen sein muß. Es waren lauter Sachen darin, die ein Mädchen mit in ein Versteck nehmen würde … Ich weiß das noch von damals, als …«

Er sah zu seiner Frau, deren Gesicht ganz bleich geworden war. Elizabeth hielt ihre eine Hand, während Arne nach der anderen griff.

»Ich legte sie dort ab und dachte, das sei ein guter Platz, wo ich sie lassen könnte, während ich nach Hilfe suche. Und dann fing ich an darüber nachzudenken, was das bedeutete … Leute benachrichtigen, möglicherweise ihre Eltern aufsuchen … und ich merkte, daß ich dazu nicht die Kraft hatte. Im Verlauf der Jahre war ich zu der Überzeugung gekommen, daß ich stark genug wäre, alles zu tun und zu ertragen, aber ich merkte, dazu hätte ich nicht die Kraft. Also verschloß ich den Eingang ihrer kleinen Höhle. Ich wollte eigentlich nur etwas Zeit zum Nachdenken gewinnen. Ich wollte sie nicht für immer versteckt halten. Das wollte ich ihren Eltern nicht antun, denn ich weiß nur zu gut, wie es einem geht, wenn die Leiche seines Kindes nicht gefunden wird.«

»Warum haben Sie dann Ihre Spuren durch das tote Schaf verwischt?«

Das kam von Wield, der unbemerkt im Hintergrund gestanden hatte. »Ich bin der, der sie gefunden hat«, fuhr er anklagend fort. »Ich habe gesehen, wie sehr Sie sich angestrengt haben, sie gut zu verstecken.«

»Der Hund war immer noch da«, sagte Wulfstan. »Ich hatte ihn mit Steinen fortgejagt, fürchtete aber, er könnte zurückkommen. Ich dachte, das tote Schaf könnte ihn oder auch irgendwelche Raubtiere daran hindern, zu ihr zu gelangen. Und dann ging ich zurück zu meinem Wagen am Leichenpfad und fuhr nach Hause. Ich glaube nicht, daß mich jemand gesehen hat.«

O doch, das hat jemand, dachte Pascoe. Ein anderes kleines Mädchen, das Gott sei Dank glaubt, sie hätte eine Szene aus einem ihrer Märchenbücher erlebt.

»Und wann genau wollten Sie uns in den Genuß dieser Informationen bringen, Sir?« erkundigte sich Dalziel mit amtlicher Höflichkeit.

»Nach dem Konzert. Morgen früh«, erwiderte Wulfstan. »Ich hatte schon vor einiger Zeit begonnen, meine Angelegenheiten sowohl beruflicher als auch privater Natur zu ordnen. Die letzten drei Tage haben mir Zeit gegeben, die Sachen zum Abschluß zu bringen, und ich dachte, ich wollte auch nicht Elizabeths … wollte nicht das Debüt meiner anderen Tochter bei diesem Festival ruinieren.«

Er sah zu Elizabeth. Was zwischen ihnen ablief, war schwer zu erkennen.

Zuneigung? Verständnis? Vergebung? Reue? Es war alles da, aber wer wem wieviel davon entgegenbrachte, war schwer zu sagen.

»Sonst noch was, das Sie uns sagen wollen?« fragte Dalziel. »Etwa, warum Sie in den letzten Wochen immer wieder den Leichenpfad raufgegangen sind? Und warum Sie Ihre Angelegenheiten ins reine bringen wollten?«

Wulfstan nickte beinahe unmerklich mit dem Kopf.

»Ich glaube, Sie wissen es, Mr. Dalziel. Vor fünfzehn Jahren hielt ich Sie für hoffnungslos dumm; jetzt sehe ich, daß ich mich womöglich geirrt habe. Zumindest, was das ›hoffnungslos‹ angeht. Ich fing an, zum Grat des Neb hinaufzugehen, als ich hörte, daß der Stausee so sehr austrocknet, daß das Dorf wiederauftaucht. Ich lebe von der Sonne und betrachtete es als Ironie des Schicksals, daß es die Sonne ist, die diese Art von Leben beendet.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Dalziel nach. »Nur damit jeder hier das auch versteht.«

Er sah zu Chloe Wulfstan. Pascoe, wohl der fortgeschrittenste Dalzieloge der zivilisierten Welt, las die Botschaft ohne große Schwierigkeiten.

Sag’s ihr jetzt, in aller Öffentlichkeit, so daß, falls sie’s wußte, niemand es aus ihr heraustricksen kann.

Eine unerwartete Galanterie? Oder nur ein subtiles Anziehen der Schraube, um sicherzugehen, daß Wulfstan weitersprach?

Was auch immer, es funktionierte.

»Sie werden in den Ruinen von Heck die Überreste eines Mannes finden – haben sie vermutlich bereits gefunden. Dieser Mann ist … war … Benny Lightfoot. Ich habe ihn dort eingesperrt. Ich habe ihn dort ertrinken lassen. Ich bin allein verantwortlich für seinen Tod. Mein Motiv war, so denke ich, ganz offensichtlich.«

Dalziel sah zu Novello, die vor lauter Konzentration auf den Verlauf der Ereignisse ein finsteres Gesicht zog. Sie hatte eines der seltenen Gesichter, die mit finsterem Blick hübscher aussehen.

»Vielleicht nicht für diejenigen unter uns, die damals nicht dabeiwaren«, sagte der Dicke. »Wenn Sie uns also einen kurzen Überblick geben könnten … Sie werden später noch ausreichend Gelegenheit haben, alles bis aufs i-Tüpfelchen zu erzählen.«

»Nachdem wir alle das Tal verlassen hatten und der Regen einsetzte, merkte ich, daß es mich immer wieder zurückzog. Zu jeder Zeit, bei Tag oder Nacht, brach dieser unwiderstehliche Drang über mich herein, zurückzugehen und auf den Hängen herumzuwandern. Sie mögen denken, daß solch ein Drang, der oftmals eine lange Anreise von entfernten Orten erforderte, recht einfach in den Griff zu bekommen wäre. Aber wenn ich Ihnen sage, daß mich dazu die absolute Gewißheit überfiel, daß Mary dort war und allein und verängstigt umherläuft, und wenn ich nicht hingehen und sie finden würde, daß sie dann aller Wahrscheinlichkeit nach stirbt, dann verstehen Sie vielleicht, warum ich diesem Drang jedesmal nachgab.

Natürlich habe ich sie nie gefunden. Manchmal stellte ich mir vor …«

Er hielt inne und zog sich einen Moment lang in sich selbst zurück. Und Pascoe ging mit ihm, zu einem dunklen, verregneten Berghang, an dem jedes noch so schwache Licht von einem blondgelockten Kopf zu kommen schien und wo jedes Wassergluckern wie das Echo eines Kinderlachens klang.

»Eine Nacht jedoch«, fuhr Wulfstan fort, »hörte ich ein Geräusch und sah eine Gestalt, die nicht nur meiner Phantasie entsprang. Es war nahe der Überreste von Neb Cottage, dort, wo man dich eine Weile später gefunden hat«, sagte er zu Elizabeth gewandt, die seinen Blick regungslos erwiderte. »Es war natürlich Benny Lightfoot.«

Ein weiterer lebendiger Geist, der im Tal herumspukte und Trost in den zerstörten Überresten seines einstigen Zuhauses suchte.

»Ich weiß, ich hätte ihn bei Ihnen abliefern müssen«, sagte Wulfstan zu Dalziel. »Aber ich konnte nicht darauf vertrauen, daß Sie ihn dieses Mal behalten würden. Nein. Das ist zu einfach. Das klingt zu sehr nach Ausrede. Ich wollte ihn für mich selbst, weil ich sicher war, daß ich Dinge über meine Tochter aus ihm herausbekommen würde, die Sie mit Ihren zurückhaltenderen Methoden nicht herausbekommen würden.«