»Sie haben ihn gefoltert«, sagte Novello.
»Ich habe ihn geschlagen«, erwiderte Wulfstan. »Mit den Fäusten. Ich habe niemals irgendwelche Geräte benutzt. Macht es das besser? Sie kennen sich mit so was besser aus als ich. Und als er nichts verriet und ich den Morgen grauen sah, schleppte ich ihn runter zu Heck. Ich wußte, daß der Keller noch zugänglich war, weil ich eine ausreichend große Öffnung zum Nachsehen geschaffen hatte für den Fall, daß Mary zu ihrem alten Haus zurückgeht und dort Zuflucht sucht. Ich band ihn mit Stoffstreifen von seiner eigenen Jacke fest, und in der nächsten Nacht kehrte ich mit Ketten und Schlössern und Haken zurück und kettete ihn an. Ich wollte einzig und allein, daß er mir sagt, was er ihr angetan hat und wo sie ist. Aber er sagte nichts. Egal, was ich tat, er sagte nichts. Ich dachte, das käme, weil er denkt, daß ich ihn umbringe, sobald er es mir gesagt hätte. Und ich schwor bei allem, das mir heilig war, schwor bei der Erinnerung an Mary, daß ich ihn am Leben ließe, wenn er mir nur sagen würde, was ich wissen mußte. Aber er wollte immer noch nicht reden. Warum? Warum? Du mußtest es mir doch nur sagen …«
Er war wieder zurückgekehrt, und diesmal waren alle bei ihm, unten in dem schmutzigen Loch, in dem das Wasser immer höher stieg. Sie sahen die beiden Gesichter so dicht nebeneinander und beide so sehr von Schmerz verzerrt, daß es in dem schummrigen Licht kaum auszumachen war, wer der Peiniger war und wer der Gepeinigte …
Nur, daß einer von ihnen jeden Morgen in eine Welt voller Wärme und Licht zurückkehrte, während der andere in Ketten lag, umgeben von Dunkelheit und kaltem Wasser.
Pascoe sagte: »Er hat also niemals geredet. Und Sie haben ihn sterben lassen.«
»Ja«, antwortete Wulfstan. »Ich bin nicht sicher, ob ich das so wollte. Ob ich dazu fähig gewesen wäre. Aber ich mußte für ein paar Tage weg und kam erst an dem Tag zurück, an dem Elizabeth … Betsy vermißt wurde. Als sie sie fanden und ich die Geschichte hörte, daß sie in der Nähe von Neb Cottage von Benny Lightfoot angegriffen worden war, dachte ich … Ich weiß nicht, was ich dachte, aber zum Teil war ich erleichtert, weil er sich anscheinend befreit hatte … weil er am Leben war. Am nächsten Abend ging ich zu Heck. Das Wasser war beträchtlich gestiegen. Ich erkannte sofort, daß er sich nicht befreit hatte, aber er muß mit übermenschlicher Anstrengung versucht haben, die Kette aus der Wand zu reißen … Ich konnte einen Arm von ihm sehen, der aus dem Kellerloch in das Wasser darüber ragte. Ein Mauerteil über der Eingangsöffnung war zusammengebrochen und hatte sie verschüttet. Ich griff ins Wasser und berührte seine Haut. Sie war kalt. Ich versuchte, den Arm zurück in den Keller zu stoßen, aber es gelang mir nicht. Also schichtete ich etwas Schutt darauf und ging weg.«
»Was für ein Gefühl hatten Sie dabei?« fragte Pascoe. »Wo Sie doch wußten, daß Sie ihn umgebracht hatten.«
Wulfstan dachte darüber nach und schürzte dabei die Lippen, als versuchte er, einen ungewohnten Geschmack zu identifizieren oder einen seltenen Wein.
»Traurig«, antwortete er schließlich.
»Traurig, daß Sie ihn umgebracht hatten?«
»Traurig, daß er starb, ohne mir zu sagen, was ich wissen wollte.«
Pascoe schüttelte den Kopf, nicht vor Abscheu, sondern voller Mitleid. Er hätte wohl zumindest empört sein müssen, doch das war er nicht.
Nicht nach den letzten Tagen.
Dalziel sagte: »Sind Sie fertig, Peter?«
»Ja.«
»Ivor, haben Sie noch was zu sagen?«
Warum war er so erpicht darauf, Novello ihre Theorie weiterspinnen zu lassen? fragte sich Pascoe. Ebenso wie in Fahrzeugen, setzte sich Andy Dalziel auch in Mordfällen niemals auf den Rücksitz.
»Ja, Sir. Nur eine Kleinigkeit«, sagte Novello. »Ich glaube nicht, daß Sie traurig waren, Mr. Wulfstan. Warum sollten Sie auch, wenn Sie doch erreicht hatten, was Sie wollten? Nun, da der Hauptverdächtige auf mysteriöse Weise verschwunden war, würde niemand mehr Zeit auf eine neuerliche Suche verschwenden, oder?«
»Suche wonach? Nach meiner Tochter?«
»Nein! Nach dem wahren Mörder. Denn der lief immer noch frei herum. Und das muß ihn doch richtig glücklich gemacht haben.«
Sie sprach mit großem Nachdruck, teils aus Verachtung, teils um eine Reaktion zu provozieren. Sie ist so sicher, daß sie recht hat, dachte Pascoe mitfühlend. Sie will unbedingt recht haben! Dies war es, worauf Dalziel aus war. Es gab Lektionen, die man am besten vor Publikum lernt. Dazu gehörte, daß es ganz in Ordnung war, den anderen einen Schritt voraus zu sein, bis man vor lauter Anstrengung, da vorn zu bleiben, einen Schritt zu weit ging.
»Tja, was sagen Sie dazu, Mr. Wulfstan?« fragte Dalziel in freundlichem Ton. »Könnte das alles vielleicht ein Ablenkungsmanöver gewesen sein, weil von Anfang an Sie es waren, der die Mädchen ermordet hat?«
Also nicht nur eine Lektion. Der Dicke wollte diesmal ganz sichergehen, daß keine Möglichkeit, so unwahrscheinlich sie auch klingen mochte, ungesagt blieb.
Wulfstans Gesicht spiegelte weder Entsetzen noch Verletztheit wider, sondern reines Unverständnis, als hätte man ihn in einer fremden Sprache angeredet. Er blickte zu seiner Frau, als suchte er in ihr eine Übersetzerin. Sie schüttelte den Kopf und sagte fast unhörbar: »Das ist widerlich … Superintendent, das ist einfach unmöglich …«
»Nun, irgend jemand hielt es aber für möglich«, sagte Dalziel. »Hat uns angerufen und geraten, daß wir Mr. Wulfstan genauer unter die Lupe nehmen. Klang wie ’ne Frau. Oder ein Mann mit verstellter Stimme. Wie klingt Ihre Falsettstimme, Mr. Krog?«
»Zu falsch, um ein Ohr wie das Ihre zu täuschen, Mr. Dalziel«, meinte Krog leichthin.
Ton, Ausdruck, Körpersprache stimmten überein. Aber es war eine Rolle, erkannte Pascoe. Eine gewählte Antwort, keine natürliche. Es war kaum zu beweisen, aber er hätte seine Weihnachtsgratifikation gewettet, daß der Smörebröd den Anruf getätigt hatte. Was nicht weiter riskant war, da Polizisten keine Gratifikationen bekamen.
Wulfstan, der vorher bereits blaß gewesen war, wurde totenbleich, als er schließlich das Ausmaß dieser Anschuldigung begriff. Interessanterweise ging er dann nicht auf Dalziel, sondern auf Novello los.
»Sie dumme, einfältige Pute«, raunte er. »Sie sind ja krank! Was wissen Sie denn überhaupt?«
Sie erhob sich.
»Ich weiß, daß Sie ein Mädchen getötet haben«, gab sie zurück. »Jetzt will ich nur herausfinden, ob es das erste war.«
Sie stand, er saß, und dennoch glich es einer Szenerie wie David gegen Goliath, als er sich mit vor Wut verzerrtem Gesicht auf seinem Stuhl vorlehnte. Jetzt sieht er dem Nix aber mächtig ähnlich, dachte Pascoe und bereitete sich auf sein Einschreiten vor.
»Kümmere dich nicht um sie, Walter. Jeder Pißkopp hier weiß, daß sie’n Haufen Hühnerkacke redet. Das heißt, jeder außer ihr.«
Sprechweise und Akzent hätten von Dalziel stammen können, doch die Stimme gehörte Elizabeth Wulfstan.
Sie faßte Wulfstan am Arm, und er entspannte sich. Dann wandte sie sich Dalziel zu und ließ Novello vollkommen links liegen, was einer direkt vor der Nase zugeschlagenen Tür gleichkam. »Sie da, Mr. Fettbrocken, Sie wissen, daß es Hühnerkacke ist. Walter hat Ihnen gesagt, was mit dem armen Mädchen passiert ist. Ist zwar schrecklich, aber es war ’n Unfall. Also, warum rufen Sie nicht seinen Anwalt an, wir gehn alle aufs Revier, Sie nehmen seine Aussage auf, und das war’s? Ich meine, das ist doch reine Zeitverschwendung hier. Ich hab keine Eidesbelehrung gehört, ich sehe keine Tonbänder. Morgen früh fahr ich nach Italien und würd davor gern ausgiebig schlafen.«
Dalziel sah sie an, lächelte, schüttelte den Kopf und murmelte: »Die kleine Betsy Allgood. Wer hätte das gedacht? Die kleine Betsy Allgood ist ein Star geworden.«