Sie kratzte sich den kahlen Kopf und sagte: »Nee, Andy, ich hab noch ’nen weiten Weg vor mir.«
»Klar, aber Sie werden’s schaffen, Herzchen«, entgegnete er. »Sie sind so weit gekommen – was sollte Sie jetzt noch aufhalten?«
»Sie vielleicht, wenn Sie uns die ganze verdammte Nacht hierbehalten«, gab sie zurück.
»Nee, Sie können jederzeit gehn, Betsy. Was hält Sie hier noch? Sie haben getan, was Sie tun wollten. Zurückkommen. Die Lieder singen. Frieden machen. Aber bevor Sie wieder verschwinden, gibt es noch eine kleine Sache, bei der Sie uns helfen könnten.«
Er hob erwartungsvoll die Hand. Wield, mit der beinahe telepathischen Gabe, sein Stichwort rechtzeitig zu erahnen – was in Dalziels Gefolge überlebensnotwendig war –, zog aus dem Stapel an Schriftstücken, den er in Händen hielt, die handbeschriebenen blauen Briefbögen heraus.
Reaktionen: Wulfstan gleichgültig, kaum bei der Sache; Krog scheinbar ahnungslos, mit aufgesetzter Unschuldsmiene; Elizabeth nachdenklich, mit einem Blick in die Runde, als wollte sie herausfinden, wie die Bögen in Dalziels Hände gekommen waren; Chloe verharrte unbeteiligt, mit zurückgelegtem Kopf und geschlossenen Augen, in der Pose, die sie seit ihrem schwachen Protest gegen die immense Anschuldigung eingenommen hatte; und Inger Sandel auf ihrem Klavierschemel schien wie immer mehr an der Tastatur als an der Unterhaltung interessiert zu sein …
»So wie’s aussieht, haben Sie sich später gedacht, daß Sie alles ’n bißchen durcheinandergekriegt hatten, was auf der Suche nach Ihrer Katze passiert ist«, sagte Dalziel. »Es wär doch schön, das alles jetzt mal klarzustellen.«
»Ich dachte, nach dem, was wir grad gehört haben, ist alles so klar, wie Sie sich’s nur wünschen können«, meinte Elizabeth.
»Es wär schön, das Vögelchen selbst singen zu hören.«
Sie schenkte ihm eines ihrer seltenen Lächeln.
»Dachten Sie das auch bei meinem Konzert?«
»Ich denke, daß Sie gehofft hatten, mit Ihrem Konzert die Dinge hier für sich abzuschließen«, erwiderte Dalziel. »Das war’s doch, was dahintersteckte, oder? Zurückkommen, es loswerden und schnell mit dem Rest Ihres Lebens weitermachen? Aber mit der Vergangenheit ist es wie mit Menschen, Herzchen. Sie müssen ordentlich begraben werden, sonst spuken sie einem ewig hinterher. Benny ist jetzt wirklich wieder da, und wir können ihm einen würdigen Abschied geben. Aber was ist mit den anderen? Glauben Sie, ein paar traurige deutsche Liedchen in einer umfunktionierten Kapelle reichen aus? Ich glaube nicht. Fragen Sie die Hardcastles. Fragen Sie die Telfords. Fragen Sie Chloe und Walter hier, die Sie all die Jahre wie die eigene Tochter großgezogen haben.«
»Und sie war eine gute Tochter«, erklärte Chloe Wulfstan, die plötzlich aus ihrer Trance erwacht war. »Eine zweite Chance. Vielleicht mehr, als ich verdient habe. Kummer macht einen egoistisch … O Gott, wenn ich an den Kummer denke, den sie sich selbst angetan hat … Betsy, es tut mir leid, ich hab versucht, es wiedergutzumachen …«
Sie ergriff Elizabeths Hand und sah die junge Frau flehentlich an, die jedoch nur die Stirn runzelte.
Pascoe hüstelte leicht. Dalziel sah ihn beinahe erleichtert an und nickte. Sie arbeiteten schon lange genug zusammen, um gewisse Grenzen abzustecken. Mit Dalziels Worten: »Ich trete den Leuten in die Eier, und Sie lullen sie mit Ihrer Psychokacke ein.«
Pascoe sagte: »Ich denke nicht, daß Sie sich allzuviel vorwerfen sollten, Mrs. Wulfstan. Sehen Sie, ich glaube nicht, daß Betsys Magersucht und diese Haargeschichte wirklich der Versuch waren, sich in Mary zu verwandeln. Und wenn, dann war das nicht Ihretwegen, oder zumindest nicht allein Ihretwegen. Nein. Sie tat es, um sich in die Art von Tochter zu verwandeln, die ihr eigener Vater bevorzugt hätte. Blond, schlank, attraktiv, anmutig. Alle dachten, die kurzgeschorenen Haare und jungenhaften Kleider seien als Ausgleich dafür gedacht, daß ihr Vater keinen Sohn bekommen hat. Aber das denke ich nicht, Elizabeth. Ich denke, Ihre Mutter hat ganz bewußt versucht, Sie so wenig mädchenhaft wie möglich zu machen. Sie für ihn unsichtbar zu machen. Aber Sie wollten von ihm gesehen werden. Sogar, als er schon tot war. Vielleicht dachten Sie, er wäre Ihretwegen gestorben. Weil Sie nicht das waren, was er wollte. Was uns zu der Frage bringt, woher Sie denn wußten, was er wollte. Woher Ihre Mutter das wußte … Tja, ich glaube, eine Ehefrau hat da einen Instinkt. Sie mag es verbergen und vertuschen, vielleicht auch vor sich selbst, aber sie weiß es. Und manchmal wird dieses Wissen unerträglich. Aber ein kleines Mädchen … Vielleicht hat Ihnen Ihre Unsichtbarkeit geholfen. Ich wette, Sie sind ihm häufig gefolgt … Ich wette, Sie konnten ihn bei guter Sicht auf eine halbe Meile Entfernung erkennen. Ein flüchtiger Blick zum Berg hinauf reichte aus. Ja, ich wette, so war es, Betsy. Ich wette, so war es.«
Es funktionierte nicht. Er hatte es so in die Länge gezogen in der Hoffnung, ihre Fassade allmählich bröckeln zu sehen, doch im Gesicht der Frau entdeckte er nichts außer einem Stirnrunzeln. Die anderen zeigten dafür um so mehr, als ihnen die Bedeutung seiner Worte bewußt wurde. Wulfstan kehrte aus seiner Versunkenheit zurück, Krogs gekünstelte Miene verzog sich zu echter Überraschung. Sandel blickte erstaunt von der Klaviatur auf, und Chloes Griff um die Hand ihrer Tochter wurde immer verkrampfter.
Sie sagte: »Betsy, bitte, was meint er damit? Was will er damit sagen?«
»Kümmere dich nicht darum«, sagte Elizabeth harsch. »Er spricht in Rätseln. So reden diese Typen nun mal, wenn sie nix zu sagen haben.«
»Betsy, wir können den Toten nichts mehr antun, wie schuldig sie auch sein mögen«, fuhr Pascoe fort. »Aber die Lebenden müssen reden. Denken Sie an all den Kummer, den Ihr Schweigen verursacht hat. Gut, einem verwirrten Kind kann man nicht vorwerfen, daß es geschwiegen hat, aber Sie taten mehr als nur schweigen, oder nicht? Sie legten eine falsche Fährte. Denken Sie an die Konsequenzen. Denken Sie an den armen Mann, der im Keller ertrinken mußte. Denken Sie an die kleine Lorraine. All das war die Folge Ihres Schweigens. Es muß ein Ende geben.«
»Ja«, sagte sie und löste ihre Hand aus Chloes Umklammerung. »Für mich hat das jetzt ein Ende. Ich habe genug. Ich muß morgen sehr früh raus und brauche meinen Schlaf. Walter, es tut mir leid, wie alles gekommen ist, aber sie können dir für einen Unfall nicht viel anhängen. Chloe …«
In einem letzten verzweifelten Versuch flehte Chloe: »Elizabeth, wenn du irgend etwas weißt, bitte, bitte, sag es uns.«
»Was denn? Was soll ich wissen?« rief Elizabeth.
»Wo sie ist. Wo meine Tochter ist! Sag es mir. Sag es mir!«
Letzte Gelegenheit, dachte Pascoe. Aber zuzugeben, daß sie es wußte, würde bedeuten, daß sie alles zugeben müßte. Nicht zuletzt, daß sie das Leid ihrer Adoptiveltern um all die Jahre verlängert hatte. Würde sie dazu stark genug sein? Er sah, wie es sie innerlich zerriß.
Er flüsterte Wield etwas zu, woraufhin der in seiner Akte wühlte und die Landkarte hervorzog, die er damals von Dendale gezeichnet hatte. Mit fragend hochgezogenen Augenbrauen reichte er sie Pascoe. Und der zeigte ihm, was er in der anderen Hand hielt.
Augenblicklich fühlte Wield sich auf den sonnenhellen Berg zurückversetzt. Vor ihm breitete sich das Tal aus wie das Gelobte Land, hinter ihm waren die tausend Jahre alten Steine des Schafpferchs, neben ihm stand der dunkle, sehnige Schäfer, den Hund gehorsam zu seinen Füßen, und durch die gleißende Luft ertönte der Gesang der Lerchen und das Blöken der zusammengetriebenen Schafe …
Du dreckiger Mistkerl! dachte Wield, als ihm klarwurde, daß die toten Schafe schon damals benutzt wurden, um die Leichen der Mädchen zu verbergen. Ein anderer Mann, ja, aber derselbe Trick!
Wie ein Zauberer hielt Pascoe die Landkarte in die Höhe, daneben die CD, und dann drehte er die CD um 45 Grad, so daß das Profil des gezeichneten Gesichts zu den Umrissen der Berge von Dendale wurde und die Sonne vor den Noten senkrecht auf die Stelle schien, die vormals der Mund des Mädchens gewesen war.