Pascoe wußte nun, was diese Noten aus seinem Mund bedeuteten. Ellie hatte sich an das Gespräch der beiden Radiomoderatoren an jenem Sonntag morgen erinnert, der mittlerweile eine Million Jahre entfernt schien.
»Mahlers Zweite ist als ›Auferstehungssinfonie‹ bekannt«, hatte sie ihm erzählt. »Es geht darin um die Auferstehung der Toten, um göttliches Gericht. Die Notenzeile ist der Beginn des Auferstehungsthemas, und es gab jede Menge Spekulationen darüber, warum sie ausgerechnet das verwendet hat und nichts aus den Liedern selber.«
Tja, die Spekulationen waren nun vorbei.
Er hielt Elizabeth die CD dicht vor die Augen.
»Ich glaube, Sie haben bereits gesagt, wo Mary und die anderen sind, Betsy«, sagte er. »Ich glaube, Sie haben sich jahrelang danach gesehnt, es jemandem zu sagen. Sie wollen, daß es vorbei ist, wollen endlich vorwärts gehen, nicht wahr? Aber Sie wissen, daß es ohne Auferstehung keine Hoffnung auf Buße und Erneuerung gibt. Das ist es, was Sie uns sagen wollen, stimmt’s, Betsy? Wir holen sie ein auf jenen Höh’n im Sonnenschein. Der Tag ist schön auf … Beulah Height.«
Und obwohl sehr wenig körperliche Veränderung möglich war, sah es so aus, als würde Elizabeth Wulfstan zu Betsy Allgood zusammenschrumpfen, die müde auf ihrem Stuhl saß und weinte.
Einundzwanzig
Obwohl Pascoe sie nur einmal gehört hatte, bekam er den Text der Lieder nicht aus seinem Kopf. Die Worte ertönten, während er im Bett lag, und sie waren immer noch in ihm, als er sich am nächsten Morgen den Berg hocharbeitete.
Oh, yes, they’ve only gone out walking,
Returning now, all laughing and talking.
Die Männer, die neben ihm den Hang absuchten, lachten und redeten nicht. Es war bereits so warm, daß sie unter ihrer Last von Hacken und Schaufeln schwitzten, auch wenn die Sonne noch nicht so hoch gestiegen war, um das ganze Tal zu beleuchten. Doch die Ostseiten der beiden Gipfel von Beulah Height dort oben glänzten bereits golden.
We’ll catch up with them on Beulah Height
In bright sunlight.
The weather’s bright on Beulah Height.
Nun waren sie nah genug, den Schafpferch zu erkennen – ein steinerner Halbkreis, der gegen den zerklüfteten Abhang des Berggrats errichtet worden war.
Noch immer sprach niemand ein Wort. Sie bewegten sich wie in einem Traum und brauchten keine Anweisungen, als sie oben ankamen, sondern verteilten sich wie nach einer gut geprobten Choreographie auf dem Abhang und schwangen ihre Hacken, um auf schwache Stellen in diesem offenbar festen Untergrund zu stoßen.
Dreimal holten sie aus, und dreimal stießen sie zu, und beim dritten Mal geschah etwas Seltsames.
Funken stoben, als Metall auf Granit traf, und mit einem Mal schien sich die Luft zu entzünden, als eine leuchtende Lava aus Sonnenlicht den Grat hinunter in den Pferch rann.
Zur selben Zeit schwang ein riesiger Felsblock auf wie das Tor einer Festung.
Die Männer wichen erstaunt zurück. Und erschrocken. Nur Pascoe blieb stehen und starrte so angestrengt in das schwarze Loch, daß seine Einbildung ihm nach einer Weile Bewegung vorgaukelte.
Einbildung? Nein, das war keine Einbildung. Da drin bewegte sich tatsächlich etwas. Er konnte im Dunkeln die Schatten erkennen, kleine Gestalten, die langsam auf das Licht zustrebten.
Und nun war die erste weit genug, daß die Sonne ihre noch undeutliche Form beleuchten konnte. Gott im Himmel! Es war ein Kind, ein Mädchen mit langem Blondhaar, das in die ungewohnte Helligkeit blinzelte und einen Strauß frisch gepflückten Fingerhut in den Armen trug. Hinter ihm kam noch ein Mädchen, auch mit Blumen. Und noch eins … Du gütiger Gott im Himmel! Pascoe erkannte die Kinder von ihren Fotografien. Das erste war Jenny Hardcastle, das zweite Madge Telford. Und das dritte war Mary Wulfstan, in deren kleinem ernsten Gesicht unverkennbar die Züge ihrer Mutter lagen.
Er wußte nicht, wie er sich das Ganze erklären sollte. Und es war ihm auch egal. Sein Herz schwoll vor Freude so sehr an, daß er kaum atmen konnte. So endete nun also alles. All die Qualen, aller Kummer und alle Verzweiflung waren nicht umsonst gewesen. Sie waren am Leben, am Leben, am Leben …
Doch das Wunder war noch nicht vorbei. Noch eine Gestalt trat hervor. Er sah hin und wagte es nicht zu glauben. Lorraine. Lorraine Dacre, die in einer Hand ihre Blumen hielt und sich mit der anderen die Augen rieb, als sei sie gerade vom Schlaf erwacht.
Und dahinter noch jemand.
Jetzt war es nicht mehr Freude, die Pascoes Herz zum Rasen brachte, es war Angst. Sie schnürte seine Kehle zu. Er hatte keine Angst davor, das Kind zu sehen, sondern Angst vor der Gewißheit, die mit ihm kam … die Gewißheit, daß sie nicht in diese wilde, bergige Landschaft gehörte und daß nur seine Einbildung sie hierher geholt haben konnte …
Das fünfte Mädchen war Zandra Purlingstone.
Er legte den Kopf in den Nacken und brüllte seine Wut und Verzweiflung in den leeren Himmel. Eine Sekunde lang schien es ihm, als stünde er allein auf dem kargen Berg. Dann war selbst diese Illusion vorüber. Er lag in seinem Bett, und das perlengleiche Morgenlicht verwandelte sein Fenster in die Leinwand einer Laterna magica, auf der die schlanken Äste der Silberbirke in seinem Garten tanzten.
Er stand auf und zog sich hastig an. Ihm blieb noch genug Zeit, um den ersten Termin dieses Tages einzuhalten, doch vorher mußte er noch etwas erledigen, das ihn in die entgegengesetzte Richtung führte. Ohne sich Zeit für ein Frühstück zu nehmen, stieg er in den Wagen und fuhr die noch leeren Straßen in die Stadt hinunter.
Im Krankenhaus kam mißtrauisch ein Mann vom Sicherheitsdienst auf ihn zu, erkannte ihn dann und grüßte. Pascoe hob eine Hand, blieb jedoch nicht stehen. Leichtfüßig sprang er die Treppen hinauf, winkte der überraschten Schwester zu und trat in das kleine Zimmer, in dem Rosie lag.
Am vorigen Abend hatte er noch spät mit Ellie telefoniert, ihr erzählt, was geschehen war und was er am folgenden Morgen tun müsse. Dalziel hatte ihm versichert, daß seine Anwesenheit nicht notwendig sei. Pascoe hatte nicht widersprochen, sondern lediglich gesagt, daß er dasein werde. Ellie hatte es verstanden, ihn nach Hause geschickt, damit er möglichst viel Schlaf bekam, und ihm versichert, daß es Rosie auf wunderbare Weise gutging.
Gestern abend war Ellies Stimme, ihre Zuversicht, genug gewesen. Heute morgen mußte er es mit eigenen Augen sehen.
Ellie hatte sich ihr Bett ins Krankenzimmer rollen lassen, damit sie ständig bei ihrer Tochter sein konnte. Als Pascoe hereinkam, bewegte sie sich, wachte aber nicht auf. Er lächelte auf sie hinunter und schlich auf Zehenspitzen zu Rosies Bett.
Sie hatte die Zudecke zurückgeworfen und lag zusammengerollt mit einer Faust unter dem Kinn, wie Rodins »Denker«.
Denk nur zu, mein Liebes. Aber nicht zuviel. Noch nicht. Du hast Zeit genug, dir über die Widrigkeiten des Lebens den Kopf zu zerbrechen. Zeit genug.
Behutsam deckte er sie wieder zu. Wie schön wäre es, die Schuhe abzustreifen und sich hier neben Frau und Kind hinzulegen und nach einer Weile mit ihnen aufzuwachen. Aber es gab Arbeit. Eine Schuld zu begleichen. Wie hatte Ellie ihn genannt? Frommer Äneas, auf dem Weg zur Lavinischen Küste?
Die Götter mußten wohl einen Hang zur Ironie haben, daß der Anblick der zwei liebsten Menschen ihn einerseits in Versuchung führte, seine Pflicht zu vernachlässigen, ihm andererseits aber auch genügend Kraft dafür gab.
Er berührte Rosies Stirn mit den Lippen und beugte sich dann über Ellie.
Ein Schreibblock lag neben ihr, halb vom Laken verdeckt. Sie hielt noch immer den Stift in der Hand. Sie hatte also wieder angefangen zu schreiben. Sie war einfach nicht unterzukriegen! Das Überstehen einer enormen Krise gab ihr die Kraft, sich umzudrehen und sich all den kleineren Krisen zu stellen. Nicht unterzukriegen!