Und RAUS – GEHT- SIE!
Fünf
Einem aktuellen Artikel der »Evening Post« zufolge war Danby so etwas wie eine Seltenheit – ein Dorf, das den Durchbruch geschafft hatte.
Entgegen dem üblichen Trend zur Stadtflucht und Verwahrlosung hatte der Fortschritt in Form eines Forschungs- und Industrieparks am Südrand der Ortschaft das ehemals mittelgroße Dorf zu einer Kleinstadt anwachsen lassen.
Nicht schön, aber erfolgreich, dachte Pascoe, als sie die Straße zwischen dem Park auf der einen und einem riesigen Supermarkt vor einer Neubau-Wohnsiedlung auf der anderen Seite vorbeifuhren.
Es bedarf jedoch mehr als den Einmarsch der Moderne, um den englischen Provinzsonntag abzuschaffen, denn der alte Ortskern lag so ruhig da wie ein Pueblo zur Siesta. Selbst die Leute, die draußen vor den drei Pubs saßen und von Dalziel lediglich mit einem schwachen sehnsuchtsvollen Seufzer bedacht wurden, wirkten wie Dornröschens zum Schlaf erstarrte Untertanen.
Die einzigen Anzeichen von Geschäftigkeit waren nurmehr ein Mann, der wie wild auf einer Schaufensterscheibe herumschrubbte, auf der aller Anstrengung zum Trotz die Worte BENNY IST WIEDER DA! hartnäckig sichtbar blieben, und ein anderer, der dieselben Worte in schwarzer Schrift von einem Dachgiebel entfernte.
Keiner der beiden Polizisten sagte etwas, bis sie wieder auf offenem Land waren. Moorlandschaft nun, kein Nutzland mehr.
»Dieses Liggside liegt am Stadtrand, oder?«
»Ja. Gleich neben dem Ligg Common. Der Ligg Beck fließt geradewegs ins Tal. Und da hinten ist der Neb.«
Die Sonne ließ die Szenerie erstrahlen wie ein Urlaubsdia. Das Tal stieg vor ihnen allmählich an, erst Richtung Norden, dann mit einem Schlenker nach Nordosten. Der Neb ragte nach Westen auf. Die Straße, auf der sie fuhren, verlief über den unteren östlichen Ausläufer des Talhangs, und ihre weißen Kehren waren so deutlich zu sehen wie Knochen auf einem Strand.
»Die nächste links, wenn ich mich recht erinnere«, sagte Dalziel.
Natürlich erinnerte er sich recht. Sollte Pascoe sich einmal zusammen mit einem Kartographen des Landesvermessungsamts, einem preisgekrönten Orientierungswettkampfteilnehmer und Andy Dalziel inmitten des Mid-Yorkshire-Nebels verirren, so wußte er, wem er folgen würde.
Liggside bestand aus einer kleinen grauen Häuserreihe mit Bürgersteig. Hausnummer 7 war ohne Schwierigkeiten auszumachen. Ein Polizeiwagen stand davor, ein uniformierter Polizist an der Tür, und zwei kleine Gruppen Schaulustiger hatten sich in dezenter Entfernung (was in Mid-Yorkshire etwa zehn Fuß bedeutete) rechts und links davon postiert.
Der Constable kam zur Straße, als Dalziel seinen Wagen quer über zwei Parkplätze abstellte, vermutlich, um ihn zu maßregeln, doch zu seinem eigenen Glück erkannte er den Wagenbesitzer noch rechtzeitig und öffnete ihm und seinem Beifahrer diensteifrig die Tür.
Pascoe stieg aus, streckte sich und sah sich um. Die Häuser waren klein und unscheinbar, aber solide und keineswegs schäbig, und der Erbauer war stolz genug gewesen, das Jahr ihrer Fertigstellung in den Mittelsturz zu schnitzen: 1860. Mahlers Geburtsjahr. Nach Dalziels unerwarteter Reaktion auf die »Kindertotenlieder« fiel ihm der Komponist wieder ein. Er bezweifelte allerdings, daß dieses Ereignis in Danby irgend jemanden interessiert hatte. Welches große Ereignis mochte wohl die Gemüter der ersten Bewohner von Liggside bewegt haben? Der amerikanische Bürgerkrieg? Nein, der war 1861 gewesen. Die Besetzung Siziliens durch Garibaldis Rothemden? Vermutlich dachten die meisten hier beim Namen des Italieners eher an ein Nudelgericht. Oder war es arrogant und elitär, so zu denken?
Ihm war sehr wohl bewußt, daß seine geistigen Streifzüge ein Versuch waren, den quälenden Schmerz und die panische Angst von sich fernzuhalten, die hinter dieser mattbraunen Tür mit ihrem Briefkasten aus Messing und ihrer abgetretenen Schwelle warteten. Wenn es um ein vermißtes Kind ging, waren die Eltern diesen Gefühlen unwiderruflich ausgeliefert, und nicht einmal Wut konnte sie verdrängen.
Der Constable öffnete die Haustür und rief leise. Einen Augenblick später tauchte ein Sergeant in Uniform auf, in dem Pascoe den Leiter der Polizeiwache Danby wiedererkannte: Nobby Clark. Der sagte nichts, sondern schüttelte nur den Kopf, um anzuzeigen, daß die Situation noch immer unverändert war. Dalziel schob sich an ihm vorbei, und Pascoe folgte.
Das kleine Wohnzimmer war voller Leute, alles Frauen, doch konnte man die Mutter des vermißten Kindes unschwer an ihrem blassen Gesicht erkennen. Sie saß in fast embryonaler Haltung am Rand des weißen Kunstledersofas und schien der versuchten Umarmung einer großen blonden Frau, deren Körperbau zum Stämmen von Gewichten geeigneter schien als zu trostspendenden Gesten, eher auszuweichen, als ihr nachzugeben.
Dalziel zog alle Blicke auf sich. Sie hielten Ausschau nach Hoffnung, und da sie keine fanden, wanderten sie von seinem Gesicht auf sein Hemd.
»Wer, zum Teufel, ist dieser Clown?« wollte die Blonde mit heiserer Stimme wissen.
»Detective Superintendent Dalziel, Chef der Kriminalpolizei«, verkündete Clark.
»Ach, tatsächlich? Und dann kommt er zu so einem Zeitpunkt daher wie ein kunterbuntes Kirmeszelt?«
Dalziel ignorierte die Bemerkung und kniete sich mit überraschender Behendigkeit vor die blaßgesichtige Frau.
»Mrs. Dacre, Elsie«, sagte er. »Ich bin sofort gekommen, als ich davon hörte, und habe keine Zeit mit Umziehen verschwendet.«
Sie hob den Kopf und sah ihn mit rotgeränderten, trüben Augen an.
»Niemand schert sich einen Dreck, was Sie anhaben! Werden Sie sie finden?«
Was sagst du nun, alter Zaubermeister? überlegte Pascoe.
»Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht«, erwiderte Dalziel.
»Und was ist das?« fragte die Blonde. »Was genau machen Sie denn, hm?«
Dalziel erhob sich. »Sergeant Clark, lassen Sie uns ein wenig Platz schaffen. Bitte gehen Sie alle hinaus. Wir brauchen Luft.«
Die Blonde signalisierte allein durch ihre Körpersprache, daß sie nicht gewillt war, sich von der Stelle zu rühren, doch Dalziel nahm ihr den Wind aus den Segeln. »Sie nicht, Mrs. Coe. Sie können dableiben, falls Elsie Sie braucht.«
»Woher zum Teufel wissen Sie meinen Namen?«
Das war tatsächlich eine interessante Frage, die Antwort jedoch nicht allzu schwer zu erraten. Coe war Elsie Dacres Mädchenname, und eine etwas ältere Frau, die die Rolle der Meistertrösterin übernahm und weder eine Familienähnlichkeit aufwies noch den Eindruck einer Busenfreundin erweckte, war mit großer Wahrscheinlichkeit eine Schwägerin.
Dalziel sah sie nur ausdruckslos an, um ja nicht den Eindruck der Allwissenheit zu zerstören, die die Leute dazu brachte, ihm die Wahrheit zu enthüllen – oder sie zumindest so nervös machte, daß sie sich durch das Verschweigen derselben verrieten.
»Also, Sergeant«, sagte er, als Clark hinter der letzten Frau die Tür schloß. »Was geht hier ab?«
»Meine Männer sind oben am Berg …«
»Ganze drei! So viele hat er«, unterbrach Mrs. Coe verächtlich.
»Tony – das ist Mr. Dacre – wollte natürlich wieder rauf und suchen«, fuhr Clark unbeirrt fort, »und ein Haufen anderer wollte ihm helfen, also hielt ich’s für das beste, daß sie ein wenig angeleitet werden.«
Dalziel nickte anerkennend. Je unorganisierter und amateurhafter eine erste Suche war, desto schwerer wurde ein späteres gründliches Durchkämmen des Gebietes, um Hinweise auf eine Entführung oder einen Mord zu finden.
»Sehr gut«, sagte er. »Das Mädchen könnte sich leicht den Knöchel verstaucht haben und jetzt da oben hocken und warten, daß jemand sie holt.«
Solch forsch-fröhlicher Optimismus ging Mrs. Coe sichtlich gegen den Strich, aber sie hielt den Mund. Elsie Dacre war es, die darauf ansprang, wenn auch zunächst mit gezwungen ruhiger Stimme.