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»Glückliche Familie?« fragte er.

»Sehr glücklich. Ich kenne die Mutter, seit sie selbst ein Kind war.«

»Natürlich. Sie haben ja in Dendale unterrichtet, bevor sie den Staudamm gebaut haben.«

»Stimmt. Und wie alle anderen mußte auch ich umziehen. Der Preis des Fortschritts.«

»Letztendlich waren aber einige Leute froh wegzugehen und sogar froh, das Tal unter Wasser zu sehen, oder?« fragte er vorsichtig.

»Glauben Sie, Lorraines Verschwinden hat etwas mit dem zu tun, was damals passierte?«

»Sagen Sie es mir, Mrs. Shimmings. Ich war damals nicht dabei. Haben Sie etwas von den Kritzeleien gehört? ›Benny ist wieder da!‹?«

Sie nickte.

»Und? Könnte er zurück sein? Und wenn ja, wo ist er in der Zwischenzeit gewesen? Ich habe gehört, er war ein bißchen einfältig.«

»Er hätte bei Menschen untertauchen können, die keine Fragen stellen oder Urteile fällen«, mutmaßte sie. »Wie diese Alternativen. Jedenfalls war Benny nicht einfältig. Tatsächlich war er sogar sehr helle.«

»Entschuldigen Sie. Mir wurde gesagt, er habe einen Unfall gehabt … irgendwas mit einer Metallplatte im Kopf …«

»Ach, das«, meinte sie wegwerfend. »Ich habe Benny vor und nach dem Unfall unterrichtet, Mr. Pascoe. Und er war danach genauso schlau wie davor. Aber er war anders, und die Leute in Yorkshire verwechseln anders mit abartig genauso schnell wie anderswo. Nein, er war nicht einfältig, er war nur … ich glaube, exzentrisch ist das richtige Wort. Er besuchte unsere Grundschule, bis er alt genug für die weiterführende Schule war. Das bedeutete, daß er den Bus nehmen mußte, um aus dem Tal zu kommen, und dazu hatte er keine große Lust. Aber sein Vater bestand darauf, daß er hinging und sich anstrengte, und Benny hörte immer auf das, was Saul, sein Vater, sagte. Dann, als Benny zwölf war, ist Saul Lightfoot gestorben.«

»Wie?« fragte Pascoe, ganz Polizist.

»Ertrunken. Er war ein gut gebauter, athletischer Mann«, sagte Mrs. Shimmings mit leicht verträumtem Blick. »Er ging regelmäßig in unserem See schwimmen. Er war ein guter Schwimmer, aber man vermutete, daß er sich unter Wasser in den Ästen eines alten Baumes verfangen hatte. Benny war am Boden zerstört. Die ganze Familie lebte bei der alten Mrs. Lightfoot, Bennys Großmutter, im Neb Cottage. Es muß da ziemlich eng gewesen sein mit den drei Kindern: Benny und seine beiden jüngeren Geschwister Barnabas und Deborah. Aber alles lief gut, solange Saul da gewesen war. Er war ein ganz besonderer Mann. Heutzutage würde man wohl ›charismatisch‹ sagen. Oder was junge Mädchen einen Supertyp nennen.«

Pascoe lächelte und sah unauffällig auf seine Uhr. Alte Dorfgeschichten schön und gut, aber er hatte Aufgaben im Hier und Jetzt, die keinen Aufschub duldeten.

»Tut mir leid, ich halte Sie auf«, sagte Mrs. Shimmings.

Er hatte vergessen, daß er einer Lehrerin mit gut geschultem Blick für die vielsagenden Feinheiten des Verhaltens gegenüberstand.

»Bis meine Männer kommen, kann ich sowieso nichts tun«, versicherte er ihr. »Bitte erzählen Sie weiter.«

»Tja, Marion, das ist Bennys Mutter, und die alte Mrs. Lightfoot sind nie besonders gut miteinander ausgekommen. Sie war kein Mädchen vom Land, Saul hatte sie auf einem Tanzabend in der Stadt kennengelernt, und wo er nun weg war, gab es nichts mehr, das sie in Dendale hielt. Es überraschte also niemanden, daß sie eine Stelle in der Stadt annahm und mit den Kindern wegzog. Benny kam hin und wieder her, um seine Großmutter zu besuchen. Ich merkte, daß er nicht glücklich war. Nicht, daß er mit jemandem darüber geredet hätte – nein, er zog sich mehr und mehr zurück. Dann lernte seine Mutter anscheinend einen neuen Mann kennen. Er zog zu ihnen. Ich glaube, daß sie schließlich irgendwann heirateten, aber nur, weil sie auswandern wollten – nach Australien, glaube ich –, und für Verheiratete geht das leichter. Benny wollte nicht mit. Am Abend vor der geplanten Abreise riß er aus und lief zu seiner Großmutter. Marion kam, um ihn zu suchen. Er weigerte sich rundheraus, mit ihr zu gehen, und die alte Mrs. Lightfoot meinte, er könne ja bei ihr bleiben. Und so geschah es. Ich könnte mir denken, daß eine Menge Dinge gesagt wurden, die lieber ungesagt geblieben wären. Das Resultat war schließlich, daß die Familie abreiste und Benny ins Neb Cottage einzog. Soweit ich weiß, ist er sofort von der Schule gegangen. Ein paarmal kam jemand wegen Schulschwänzerei, auch das Jugendamt, aber sobald er jemanden von der Behörde auch nur von weitem sichtete – eigentlich bei jedem, den er nicht kannte –, rannte Benny den Neb hinauf, und letztendlich haben sie mehr oder weniger aufgegeben, obwohl ich sicher bin, daß sie sich irgendeine glaubwürdige Erklärung der Situation einfallen ließen, um das Gesicht zu wahren.«

»Wie erklärt man Schuleschwänzen?« wollte Pascoe wissen.

»Gar nicht. Das macht dann die Zeit«, antwortete Mrs. Shimmings. »Ich glaube, in der Schulbehörde stießen sie nach Bennys sechzehntem Geburtstag einen mächtigen Stoßseufzer aus. Aber der psychische Schaden war da. Benny war zum mißtrauischen, introvertierten Einzelgänger ohne soziale Fähigkeiten geworden – mit anderen Worten: in den Augen der meisten Leute ein Schwachkopf.«

»Und könnte er etwas mit dem Verschwinden der Mädchen zu tun gehabt haben?«

»Sex ist ein starker Antrieb für junge Männer«, sagte sie. »Bevor er Betsy Allgood angriff, hatte ich noch ernsthafte Zweifel. Danach allerdings …«

Sie schüttelte den Kopf. »Sie hatten ganz recht mit dem, was Sie vorhin sagten. Am Ende waren viele Leute wahrscheinlich froh, von Dendale wegzukommen und es untergehen zu sehen. Die Religiösen betrachteten es als Wiederholung der Sintflut, die das Böse ertränken sollte.«

»Netter Gedanke«, meinte Pascoe. »Aber das Böse kann hervorragend schwimmen. Und wie empfanden Sie es, Mrs. Shimmings?«

Es schien eine ganz harmlose Frage, doch zu seiner Bestürzung sah er, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, obwohl sie sich schnell abwandte und zu ihrem Pult ging.

»Eigenartig«, sagte sie. »Während ich auf Sie wartete, bin ich in unsere kleine Bibliothek gegangen und habe dieses Buch hier rausgesucht.«

Sie nahm ein Buch vom Pult und hielt es hoch, damit er den Titel lesen konnte.

»Das Ende von Dendale«.

»Ich kenne es«, sagte Pascoe. »Meine Frau hat auch eins davon.«

Es war ein quadratischer Bildband mit vielen Fotos und wenig Text, der aus zwei Teilen bestand. Der erste hieß »Das Tal« und der zweite »Die große Flut«. Das erste Foto war ein Panorama des gesamten Tales, in Abendlicht getaucht. Und der Untertitel des ersten Kapitels hieß: »Bild einer ländlichen Idylle«.

»Das verlorene Paradies«, sagte Mrs. Shimmings. »Als das habe ich es empfunden, Mr. Pascoe. Es mag seine Verderbnis gehabt haben, aber trotzdem war es wie die Vertreibung aus dem Paradies.«

Draußen ertönte eine Hupe. Froh über die Unterbrechung dieses, wie er hoffte, für sein Anliegen irrelevanten Gefühlsausbruchs, trat Pascoe ans Fenster.

Sie kamen. Diverse Fahrzeuge mit diversen notwendigen Einrichtungen für die Zentrale. Möbel, Telefone, Funkgeräte, Computer, Miniküche und natürlich Personal. So ähnlich muß es in einem Krieg ablaufen, dachte er. Vor einem großen Angriff. So viel geschäftiges Treiben, so viele Menschen und Maschinen, daß eine Niederlage undenkbar erscheinen mußte.

Er sagte: »Wir sprechen uns später noch, Mrs. Shimmings«, und ging hinaus, um die Organisation zu übernehmen.