Und noch jemand war abwesend, wie sie feststellte. In den letzten Wochen war es interessant zu beobachten gewesen, wie die reale Gestalt Zandra die imaginäre Gestalt Nina verdrängt hatte.
Wie beiläufig fragte sie: »Nina ist nicht dabeigewesen?«
»Aber nein«, antwortete Rosie. »Der Nix hat sie wieder geschnappt. Kann ich was Kaltes trinken? Mir ist so heiß.«
Soviel zu imaginären Freunden, dachte Ellie. Heute geliebt, morgen wieder ins Märchenbuch verbannt!
Sie sagte: »Kein Wunder, daß dir nach so einem Tag heiß ist. Laß uns mal nachsehen, was wir im Kühlschrank haben, und dann reibe ich dich mit meiner Après-Lotion ein, um sicherzugehen, daß du dich nachher nicht wie eine alte Zwiebel pellst.«
»Kommt Daddy nach Hause, bevor ich ins Bett gehe?«
Sie gähnte beim Sprechen. Die Anstrengung, ihre Erlebnisse zu berichten, hatte ihr offenbar die letzten Kräfte geraubt.
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Ellie. »So wie du aussiehst, können wir froh sein, wenn du nicht einschläfst, bevor du ins Bett gehst.«
»Aber er kommt doch gleich nach Hause, sobald er das kleine Mädchen gefunden hat?«
Verdammt! Sie hätte aus ihrer eigenen Kindheit noch wissen müssen, wie scharf kleine Ohren waren, wenn es darum ging, Gesprächsfetzen aus den Unterhaltungen Erwachsener aufzuschnappen.
Sie dachte an Peters Beschreibung von den Eltern dieses vermißten Mädchens – als hätte jemand was ausgeknipst –, und noch eine Zeile kam ihr in den Sinn: so deep in my heart a small flame died.
Sie legte ihre Arme um Rosie und drückte sie so fest, daß das arme Kind keuchte.
»Oh, entschuldige«, meinte Ellie. »Komm, holen wir dir was zu trinken.«
Neun
Sie sind lang, die Tage des Hochsommers, und ihre endlos erscheinende Helligkeit und Wärme geben all jenen, die sich entspannt darauf einlassen können, eine Ahnung jener ewigen Glückseligkeit, die wir besaßen, ehe der Große Grundstücksmakler des Himmels unser erstes Heim mit Garten zurückforderte.
Auf solche Gedanken kamen die Polizisten in Danby nicht. Sie hatten nicht einmal dieses Gefühl zunehmender Dringlichkeit, das die nahende Nacht in einem Suchtrupp normalerweise weckt, oder empfanden Ärger darüber, die Suche aufgrund der Dunkelheit mehrere Stunden unterbrechen zu müssen. Ein Gefühl der Lähmung hatte sich ihrer bemächtigt, der Sinnlosigkeit ihres Tuns. Wie Pascoe vermutete, beruhte das auf der engen Verbindung dieser Gemeinde zu Dendale und damit auf einer Art kollektiven Erinnerung an die Geschehnisse vor fünfzehn Jahren.
Nach außen hin kämpfte Andy Dalziel gegen diese Stimmung an, doch in Pascoes Augen schien er dafür sogar einer der Hauptauslöser zu sein. Er vermittelte nicht etwa den Eindruck mangelnder Betriebsamkeit oder gar Betroffenheit. Im Gegenteil, er wirkte persönlich betroffener als bei jedem anderen Fall, an den Pascoe sich erinnern konnte. Anscheinend spürte er aber, daß die ganze technische und bürokratische Struktur der Untersuchung – die Suchtrupps, die Einsatzzentrale, die Ermittlungen von Haus zu Haus – eine Art Mechanismus war, der lediglich die öffentliche Moralvorstellung befriedigte.
Für Pascoe war dieser Mechanismus ein Trost. Durch ihn wurden mosaiksteinartig Informationen gesammelt – einige unwichtig, wie etwa die Durchsuchung von Garten und Schuppen, andere wichtig. Man setzte diese Informationen an die richtige Stelle, verband sie sorgfältig miteinander wie die numerierten Punkte in einem Kindermalbuch, und mit etwas Glück erkannte man irgendwann das Bild.
Er wünschte, Wieldy wäre hier. Wenn es darum ging, in einem Haufen Punkte ein Bild zu erkennen, war niemand besser als Sergeant Wield. Aber er und sein Lebensgefährte waren übers Wochenende in die Borders gefahren, um Bücher einzukaufen. Zumindest war es das, was der Lebensgefährte, Buchantiquar Edwin Digweed, tun wollte. Wields Interesse an Büchern begann und endete mit den Werken von H. Rider Haggard. Als Andy Dalziel von Wields Abwesenheit erfuhr, hatte er mit seiner ihm eigenen Derbheit darauf getippt, daß er nur als Appetithappen mitgenommen worden war.
Um acht Uhr erschien Dalziel in der Zentrale und teilte Pascoe mit, er habe die Suche für diesen Tag abbrechen lassen.
»Es ist doch noch ein paar Stunden hell«, entgegnete Pascoe überrascht.
»Wir sind zuwenig Leute«, erwiderte Dalziel. »Und kaputt. In der Dämmerung werden sie anfangen, nachlässig zu werden, an zu Hause zu denken, ein Rauchpäuschen einzulegen, und als nächstes haben wir hier noch einen Heidebrand, und alle müssen die ganze Nacht über löschen. Nein, danke. Ich war eben bei den Dacres und hab’s ihnen gesagt.«
»Wie haben sie reagiert?«
»Was denken Sie wohl?« gab der Dicke barsch zurück. Dann fügte er etwas milder hinzu: »Ich habe mich an die ›keine Nachricht ist gleich gute Nachricht‹-Taktik gehalten. Sprich nicht vom Tod, bevor du eine Leiche hast.«
»Aber Ihr Gefühl sagt Ihnen etwas anderes, oder?« fragte Pascoe vorsichtig. »Sie sind von Anfang an sicher gewesen, daß sie nicht wieder auftaucht, stimmt’s?«
»Meinen Sie? Tja, dann wird’s wohl so sein. Zeigen Sie mir, daß ich unrecht habe, mein Junge, und ich geb Ihnen ’nen dicken nassen Kuß.«
Auch mit solcherlei Drohungen konfrontiert, wagte Pascoe kühn einen weiteren Vorstoß. »Es könnte eine Entführung gewesen sein. Wir haben noch einige nicht überprüfte Aussagen über auffällige Fahrzeuge.«
Das Greifen nach dem berühmten Strohhalm. Alle Aussagen über früh am Morgen gesichtete Fahrzeuge waren bereits überprüft worden – bis auf drei: ein ortsansässiger Bauer hatte einen blauen Wagen mit einem Affenzahn, wie er sich ausdrückte, die Straße zum Highcross Moor hinauffahren sehen; mehreren Leuten war eine weiße Limousine aufgefallen, die am Rand des Ligg Common abgestellt gewesen war; und eine Mrs. Martin, eine kurzsichtige Dame, die früh zur St. Michael’s Church aufgebrochen war, um ihrem Blumendienst nachzukommen, meinte, sie habe ein Auto den Leichenpfad hinauffahren hören.
»Den Leichenpfad?« wiederholte Dalziel.
»Ja, so nennen sie den Bergpfad, der …«
»… der über den Neb nach Dendale führt und auf dem sie früher ihre Toten zum Begräbnis rüber nach Danby brachten, bevor sie ihre eigene Kirche bauten«, beendete Dalziel den Satz. »Kommen Sie mir nicht als Lokalhistoriker, mein Junge; hier bin ich schon ein verdammter Experte.«
Er kratzte sich bedächtig am Kinn und sagte dann: »Lust auf ’nen Spaziergang? Wird Ihnen guttun, Sie seh’n ein bißchen blaß aus.«
»Spaziergang? Wohin denn?«
»Sie werden schon seh’n. Kommen Sie.«
Draußen tauchte der Dicke in seinen Kofferraum, aus dem er einen kleinen Rucksack hervorzog und Pascoe zuwarf.
»Sie tragen ihn rauf, ich trag ihn runter.«
»Rauf?« echote Pascoe mit mulmigem Gefühl.
»Ja. Rauf«
Mit Pascoe im Schlepptau marschierte Dalziel durch ein niedriges Tor auf den Friedhof, zwischen den grün und grau bemoosten Grabsteinen hindurch, an der Kirche vorbei und durch das überdachte Eingangstor an der gegenüberliegenden Seite hinaus. Vor ihnen schlängelte sich ein malerischer Feldweg zwischen alten Ulmen und Eiben hindurch. Zumindest waren die ersten fünfundzwanzig Meter malerisch, dann wurde es immer steiler und steiniger.
»Wenn hier was raufgefahren ist, dann nur mit Vierradantrieb. Oder vielleicht war’s ein Traktor«, keuchte Pascoe. »Der Boden ist zu hart, als daß man Spuren erkennen könnte.«