»Danke für die Belehrung, Lederstrumpf«, sagte Dalziel. »Und was ist das da gewesen? Eine Kuhherde in Gummistiefeln?«
An einer kleinen Lichtung neben dem Feldweg, wo die Bäume auffallend spärlicher standen, deutete er auf das niedergetretene Gras und den staubigen Boden, in dem stellenweise deutlich Reifenspuren zu sehen waren.
»Ja, nun … hm«, sagte Pascoe. »Hier ist etwas gewesen. Gut erkannt, Sir.«
Er drehte sich um und kehrte auf dem Weg zurück, den sie gekommen waren.
»He, Sonnenschein, warum die Eile? Wir sind noch gar nicht da!«
Pascoe blickte Dalziel nach, der weiter den Hügel hinaufstieg. Der Feldweg entfernte sich nun von den Bäumen und wand sich über den offenen Hang.
»Aber warum … ? Ich dachte, Sie wollten mir nur … Ach, verdammt!« schimpfte Pascoe und stapfte wieder bergan.
Der Pfad schlängelte sich sanft den Hügel hinan. Zumindest befanden sie sich an der östlichen Flanke des Neb, außerhalb der Reichweite der untergehenden Sonne. Trotzdem war Pascoe schweißgebadet, als er den sonnenerhellten Kamm endlich erklommen hatte.
»Fünfundvierzig Minuten«, sagte Dalziel, der gemütlich an einen Felsen gelehnt dasaß. »Man sollte meinen, daß ein drahtiger junger Bursche wie Sie den Weg in einer halben Stunde schafft.«
Pascoe ließ sich neben ihm nieder, sehr darauf bedacht, nicht laut zu schnaufen.
»Dann mal her mit dem Sack«, forderte der Dicke.
Pascoe wand seine Schultern aus den Riemen und reichte den Rucksack hinüber.
Dann blickte er auf Dendale hinunter.
Erst jetzt wurde ihm klar, wie der Neb den früheren Talbewohnern als Grenze erschienen sein mußte. Der Abhang war auf dieser Seite viel steiler, und die sanften Windungen des Leichenpfads auf dem Hang von Danby wurden hier von scharfen Zickzacklinien abgelöst. Und während Danby eigentlich schon zu der großen fruchtbaren Nutzlandschaft von Mid-Yorkshire gehörte, war das schmale Gletschertal von Dendale ganz und gar den wilden Moorgebieten der Grafschaft zuzuordnen.
Er vermutete, daß genau diese Wildheit und schroffe Abgeschiedenheit des Tals die Strategen der Wasserbehörde verlockt hatte, es zum Stausee umzufunktionieren. Pascoe wußte nichts über ihre Planung oder die Kriterien für die endgültige Entscheidung, aber er vermutete, daß diese mit vielen unerquicklichen Phrasen gespickt gewesen war, etwa im Hinblick auf den größten Nutzen für die größte Anzahl von Leuten und der Schwierigkeit, Omelettes zu backen, ohne Eier zu zerschlagen, deren Inhalt sich dann wie heiße Lava über sämtliche Häuser und Höfe und alles Leben ergoß.
Ohne Zweifel hatte es eine öffentliche Umfrage gegeben. Die gab es ja immer. Irgendein sprachwissenschaftlicher Archäologe des nächsten Zeitalters, der ein Lexikon über den Sprachgebrauch des späten zwanzigsten Jahrhunderts erstellen würde, käme wahrscheinlich zu der Feststellung, daß die Zeitspanne zwischen dem Beschluß einer Sache und ihrer endgültigen Durchführung von einem überalterten Ritual festgelegt wurde, das öffentliche Umfrage hieß.
Hier war er also, der berühmte Stausee – mit öffentlichen Geldern für das öffentliche Wohl geschaffen in einer Zeit, als die Privatisierung öffentlicher Einrichtungen nichts weiter war als das düstere Leuchten in den Augen eines Dämons. Inzwischen war sie allerdings Dreh- und Angelpunkt im großen Meisterplan der Mid-Yorkshire Wasser-AG, die für die nächsten hundert Jahre ihre Verbraucher (Verzeihung: Kunden) naß und ihre Teilhaber reich zu halten hoffte.
Doch die Natur hatte all diese Pläne zunichte gemacht, indem sie einfach ein paar Monate lang unverwandt ihr großes gelbes Auge vom Himmel starren ließ.
Um die dunklen Wasser des Stausees verlief ein breiter, blasser Streifen von ausgewaschenem Fels und getrocknetem Schlamm, auf dem grundrißartig die Spuren ehemaliger Hausmauern zu sehen waren und daneben verschieden große Haufen glattgespülter Mauersteine, die aufzeigten, wo Teile des ertränkten Dorfs nach Luft schnappend wieder hochgekommen waren.
»Woll’n Sie das Bier oder nicht?«
Pascoe drehte sich um und sah, daß der Dicke ihm eine Dose Bitter entgegenstreckte.
»Tja, ich habe es raufgetragen,« erwiderte Pascoe, »da kann ich es ebensogut wieder runtertragen.«
Er nahm einen langen, erfrischenden Zug. Dalziel hatte mittlerweile seine eigene Dose abgestellt und ein Fernglas aus dem Rucksack gezogen, mit dem er das Tal absuchte.
Was habe ich hier noch alles raufgeschleppt? überlegte Pascoe. Eintopf und Schnellkochplatte?
»Hier hat alles angefangen, mein Junge«, sagte Dalziel. »Ich wollte nur, daß Sie’s mit eigenen Augen seh’n.«
»Danke, daß Sie daran gedacht haben, Sir«, entgegnete Pascoe. »Soll ich mir irgend etwas Spezielles ansehen oder nur ganz allgemein auf die schöne Landschaft trinken?«
»Hör ich da etwa Sarkasmus in Ihrer Stimme?« erkundigte sich Dalziel. »Der Spott der Intellektuellen, wie? Aber geben Sie sich keine Mühe, das prallt an mir ab. Ich wollte nur, daß Sie ’ne Vorstellung davon bekommen, wie’s vor fünfzehn Jahren da unten ausgeseh’n hat, als man denen sagte, sie müßten ihr Tal verlassen. Ich vermute, einem von denen hat’s ganz und gar die Sicherung rausgehau’n. Ich weiß genau, daß Sie jetzt denken, ich hätte mir die Zähne mit Whiskey geputzt oder so was, aber wenn mich schon jemand für ’nen Schwachkopf hält, dann soll der wenigstens ’ne schwache Ahnung davon haben, was ich denke. Können Sie mir folgen, mein Junge?«
»Ich versuche es, Sir.«
»Tun Sie Ihr Bestes!«
»Ich hab mir immer vorgenommen, wenn der Teufel mich mal auf einen hohen Berg führt, daß ich dann ohne Widerworte alles glauben werde, was er mir erzählt, bis ich heil wieder unten bin«, sagte Pascoe. »Also schießen Sie los. Spielen Sie Fremdenführer.«
»Nicht nötig«, sagte Dalziel. »Ich hab ’ne Landkarte. Sie war in der Dendale-Akte, die übrigens bei mir im Wagen liegt. Sie können sie nachher mit nach Hause nehmen und gründlich durchlesen. Hier.«
Er überreichte Pascoe ein Blatt Zeichenpapier. Pascoe betrachtete es schmunzelnd.
»Diese saubere Hand kenne ich doch? Ja, da sind sie! Die magischen Initialen E. W.«
»Hm, die ist von Wieldy. Sie müssen allerdings berücksichtigen, daß seine gemalten Häuser heute nix weiter sind als die Schutthaufen da unten.«
»Kam das vom Wasser?« wollte Pascoe wissen.
»Nein. Die Wasserbehörde hat sie abreißen lassen. Die dachten wohl, wenn sie die Häuser als Ganzes unter Wasser stehen lassen, müßten sie auf ewige Zeiten die Witwenrenten der Hinterbliebenen irgendwelcher Unterwasser-Freaks bezahlen. Sogar die Häuser, die nicht überflutet wurden, haben sie plattgewalzt. Damit ja keiner zurückschleicht und sich heimlich einnistet.«
Pascoe studierte die Landkarte. Dalziel reichte ihm sein Fernglas.
»Fangen Sie mitten im Dorf an«, riet er. »Wenn Sie den Leichenpfad nach unten verfolgen, sehen Sie, daß er an einem großen Felsen endet, dem Shelter Crag. Der heißt so, weil sie da immer ihre Toten abgelegt haben, bevor die ihre Reise über den Hügel nach St. Michael’s antraten. Als sie ihre eigene Kirche bauen konnten, war das natürlich der logischste Platz dafür, und jetzt ist diese Kirche der große Steinhaufen neben dem Felsen.«
Mit der Sorgfalt und Präzision eines Briefträgers, der die Runde zu oft gemacht hatte, um sie je zu vergessen, führte Dalziel seinen Kollegen durch das verunstaltete Tal. Hatte man die ehemalige Kirche erst einmal ausfindig gemacht, waren die Überbleibsel des Dorfkerns einigermaßen gut zu erkennen. Weiter entfernt gelegene Gebäude waren nicht so leicht zu unterscheiden. Hobholme, der Hof, auf dem das erste Mädchen gelebt hatte, war nicht allzu schwierig auszumachen, aber der Stang-Hof mit der Dorftischlerei schien in alle Winde verstreut. Heck, das Haus der Wulfstans, erstreckte sich als Steinruine vom neuen Ufer bis hin zum alten Rand des schwindenden Dorfsees, und weiter hinten war der langgezogene Rundhügel zu erkennen, an dem einst Low Beulah gestanden hatte, der Hof des Mädchens, das davongekommen war.