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Neb Cottage allerdings, der Wohnort des Hauptverdächtigen Benny Lightfoot und Schauplatz des letzten Angriffs, war nur schwer zu finden – vielleicht, weil es so weit oben lag, daß es die letzten fünfzehn Jahre nicht unter Wasser gestanden hatte. Vielleicht aber war es, ebenso wie sein Bewohner, wieder in den Schoß der Erde zurückgekehrt, dem seine Steine entrissen worden waren.

Pascoe teilte diesen Gedanken des Dicken nicht und richtete das Fernglas auf den Staudamm.

Irgendwo gab es ein Tal – im Lake District? –, dessen naive Bewohner einer Legende zufolge eine Mauer bauten, um den Kuckuck einzufangen und dadurch für immer im Frühling leben zu können. In diesem Tal hier war die Absicht wissenschaftlich fundierter, allerdings nicht viel erfolgreicher gewesen. Zwei Drittel der Staumauer waren mit getrocknetem Schlamm bedeckt, und auf das mittlere Drittel leckten sonnengefleckte Wellen, die nicht einmal eine Streichholzschachtel zum Kentern gebracht hätten. Der Damm wirkte genauso fehl am Platz wie ein Fußballstürmer in einer Ballettschule.

Pascoe folgte mit den Augen der sanften Krümmung bis hinauf zum Geländer, wo er einen Mann erblickte, der ganz gemütlich auf dem Damm entlangspazierte. Aus dieser Entfernung und diesem Blickwinkel war es schwer, sein Gesicht zu erkennen, aber er war groß und hatte langes, glatt zurückgekämmtes schwarzes Haar.

»Da unten ist jemand«, sagte Pascoe.

»Ach ja? Ein bißchen früher, und Sie hätten Dutzende von Leuten geseh’n. Lokalhistoriker, Vogelkundler, Bergwanderer … Die Wasserbehörde hat keine Chance, die Schaulustigen ohne bewaffnete Armee fernzuhalten«, erwiderte Dalziel.

Er nahm Pascoe das Fernglas ab und blickte kurz über den Damm.

»Er ist weg, oder Sie hatten Halluzinationen. Allerdings ist jemand oben auf Beulah Height.«

Er starrte auf den Hang unterhalb des zweifachen Gipfels.

»Beulah Height. Und Low Beulah. Da muß jemand ziemlich optimistisch gewesen sein«, meinte Pascoe.

»Soll ich jetzt etwa warum fragen?« wollte Dalziel wissen. »Tja, das brauch ich nicht, Sie Schlaumeier. ›Du sollst heißen Hephzibah‹ – das bedeutet ›Meine Lust an ihr‹ – ›und dein Land Be-ulah‹ – das bedeutet ›liebes Weib‹ oder ›Vermählte‹. Jesaja 62,4. Und in der ›Pilgerfahrt‹ von John Bunyan ist das Land Beulah die letzte Station vor’m Himmel, ›wo die Sonne scheint bei Nacht und Tag‹. So ungefähr, glaub ich. Manche sagen sogar, das Wort käme ursprünglich aus dem Angelsächsischen. Beorh-loca oder so ähnlich. Heißt Bergeinschluß. Da oben steh’n die Überbleibsel irgendeiner alten Bergfestung, vermutlich noch aus der Steinzeit. Irgendwann später nutzten Bauern die Steine, um unterhalb vom Sattel einen Schafpferch zu bauen.«

»Sind Sie zur Abendschule gegangen, Sir?« fragte Pascoe erstaunt.

»Ich bin noch nicht fertig. Möglicherweise gab der Pferch selbst den Namen. Bought oder bucht bedeutet Stall, und law heißt Berg.«

»Dann ist Height ja eigentlich tautologisch, oder?« naseweiste Pascoe. »Und außerdem klingt alles ein bißchen schottisch.«

»Denken Sie denn, wir hätten keine Missionare geschickt, um euch Schweinebacken zu zivilisieren?« entgegnete Dalziel in Anspielung auf seinen schottischen Vater. »Wie dem auch sei – andere wiederum sagen, es heiße eigentlich Baler Height, und bale bedeutet Feuer, weil sie da 1588 ein Leuchtfeuer angezündet haben, um vor der Armada zu warnen. Sie haben das alles bestimmt im College gelernt – oder durften sie euch da nix über die Zeiten erzählen, wo wir die Toreros und Itaker und so weiter verdroschen haben?«

Leicht verschnupft, weil ihre üblichen Rollen vertauscht waren, erwiderte Pascoe: »Und Low Beulah? Haben sie dort etwa ein kleines Leuchtfeuer entfacht, um die Enten zu warnen?«

»Tun Sie nicht so blöd. Ein low ist so was wie ein Grabhügel. Und der kleine Berg da neben dem Hof ist wahrscheinlich einer.«

Pascoe wußte, wann er sich geschlagen geben mußte.

»Ich bin beeindruckt«, sagte er. »Sie haben Ihre Hausaufgaben vor fünfzehn Jahren wirklich gemacht.«

»Klar. Was immer es über Dendale gab, hab ich auswendig gelernt«, sagte Dalziel ernst. »Und wissen Sie was? Genau wie all die Daten, die ich in der Schule lernen mußte, hab ich keinen Fatz davon profitiert.«

Er richtete sich auf, mit finsterem Blick gen Dendale. Wie ein römischer Feldherr, fand Pascoe, der zum Bezwingen einer rebellischen Provinz ausgesandt worden war und nun entdeckte, daß an einem solchen Ort gegen solche Feinde die klassischen Taktiken der Infanterie keinen Pfifferling wert waren.

Aber er würde einen Weg finden. Römische Feldherren und Andy Dalziel fanden immer einen Weg.

Nur daß er in diesem Fall eigentlich ins falsche Tal starrte.

Wie als Antwort auf diesen kritischen Einwand sagte Dalzieclass="underline" »Ich weiß, daß das da unten alter Bockmist ist, mein Junge. Und das unten in Danby ist ein neuer Fall. Aber vor fünfzehn Jahren hab ich eins gelernt, das mir jetzt energisch ins Gewissen läutet.«

»Und das wäre, Sir?« fragte Pascoe pflichtschuldig.

»Ich hab gelernt, daß an diesem Ort und bei diesem Wetter der Schweinehund, der das erste Mädchen umbrachte, nicht aufhörte, vielleicht nicht aufhören konnte, bis er zwei weitere erwischte und es noch bei einem dritten versuchte. Das ist der Grund, warum ich Sie hergebracht hab – um das in Ihre Birne zu kriegen. Es gibt Dinge, die kann man nicht aus Büchern lernen. Nehmen Sie die Dendale-Akte trotzdem mit nach Hause. Ich werd Sie morgen abfragen.«

»Bleibe ich am Fall dran, auch wenn ich den Test nicht bestehe?«

»An diesem Fall, denke ich, werden wir alle noch bis lange nach dem Schlußläuten dranbleiben«, erwiderte Dalziel düster. »Und jetzt geh’n wir lieber runter, solange es noch hell genug ist, um zu seh’n, wie tief wir fallen können.«

Er stapfte in Richtung Leichenpfad davon.

Pascoe warf einen letzten Blick ins Tal. Die untergehende Sonne füllte die Senke zwischen den beiden Gipfeln von Beulah Height wie eine Schüssel mit Gold. »Letzte Station vor dem Himmel.« An einem Abend wie diesem konnte man das sogar glauben.

»Heda!«

»Komme«, rief er.

Und folgte seinem großen Führer in die Dämmerung.

Zweiter Tag

Nina und der Nix

Vorwort des Herausgebers

Wir sind aus Wasser entstanden, und wenn die Treibhauseffekt-Theoretiker recht behalten, werden wir wohl wieder zu Wasser werden.

Zweiundsiebzig Prozent der Erdoberfläche und sechzig Prozent des menschlichen Körpers bestehen aus Wasser.

An Orten, die ständig von Dürrezeiten bedroht sind, wie die arabische Wüste und Mid-Yorkshire, bringt es manchen Menschen Reichtum und anderen den Tod.

Und im Laufe der Jahrhunderte haben die Menschen das Wasser mit den verschiedensten Geisterwesen bevölkert, Meerjungfrauen, Undinen, Najaden, Neriaden, Kraken, kelpies und vielen anderen, die dem jeweiligen Zeitalter und der Kultur ihrer Schöpfer entsprachen.

Das bekannteste mythische Wasserwesen hier in Mid-Yorkshire ist der Nix.

Der Nix ist ein Zwischending zwischen dem englischen Kobold und dem skandinavischen nicor.

In manchen Märchen fungiert er als eine Art Heinzelmännchen, weil er den Menschen gemeinhin wohlgesonnen ist. In anderen wiederum ähnelt er mehr seinem nordischen Verwandten, der nachts aus seinem nassen Versteck steigt, um Menschen als Beute zu verschlingen. Das Ungeheuer Grendel in der Beowulf-Sage ist eine Art nicor.

Die vorliegende Geschichte hörte ich vor vielen Jahren aus dem Mund des alten Tory Simkin aus Dendale, die nun beide traurigerweise von uns gegangen sind, der Mann und das Tal. Mich betrübt der Gedanke, wieviel Vergangenheit wir verloren haben, während die moderne Technik mit elektronischer Beständigkeit die Idiotien unseres Zeitalters bewahrt (das von allen Zeitaltern vielleicht am ehesten der Vergessenheit anheimfallen sollte). Ich danke Gott, daß es ein paar alte Narren wie mich gibt, die es für lohnenswert halten, die alten Geschichten aufzuschreiben, ehe sie für immer vergessen sind.