»Ja«, hatte sie geantwortet. »Ich fühl mich überhaupt nicht gut.«
»Dann ist es vielleicht besser, wenn du heute nicht zur Schule gehst«, hatte er erwidert, weil er insgeheim froh darüber gewesen war, einen ganzen Tag mit ihr verbringen zu können.
Dann war ihr mitten am Vormittag eingefallen, daß ihre Klasse am Nachmittag auf eine Vogelkundeexkursion gehen wollte, und nach einer wundersamen Blitzgenesung beharrte sie ehrenhaft darauf, daß es doch schändlich sei, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen dem Unterricht fernzubleiben.
Der Satz »Ich fühl mich nicht gut« wurde seither als Zauberformel benutzt, um ihrem Vater nötigenfalls das Herz zu erweichen.
Ellie Pascoe jedoch war gegen solcherlei Sprüche immun.
»Ich hab dir gestern gesagt, du sollst deinen Sonnenhut auflassen«, entgegnete sie ungerührt.
»Hab ich doch«, empörte sich Rosie. »Die ganze Zeit.«
»Natürlich«, sagte Pascoe. »Bestimmt auch dann, als du getaucht bist.«
»Das ist doch dumm«, maulte Rosie. »Da wäre er ja weggeschwommen. Muß ich wirklich zur Schule gehen?«
»Aber ja doch«, sagte er. »Ich glaube, ich habe gerade Nina gesehen, die an der Gartenpforte auf dich wartet.«
»Nein, hast du nicht. Ich hab dir doch gesagt, daß sie weg ist. Der Nix hat sie geholt. Ich habe es gesehen!«
Pascoe sah zu Ellie hinüber, die ein Ich-vergaß-es-dir-zu-sagen-Gesicht zog.
»Vielleicht hat ihr Vater sie wieder gerettet«, sagte er.
»Jetzt bestimmt noch nicht. Das war doch erst gestern. Es wird dir leid tun, wenn ich auch geholt werde.«
Es gab Sätze, die brachten nicht nur ein Gespräch, sondern auch den Atem zum Stocken.
»Na ja, sieh einfach zu, wie lange du es aushältst«, überspielte er seinen Schock mit heiterer Stimme. »Für mich ist es heute auch nicht schön, weißt du. Ich würde auch lieber zu Hause bleiben.«
»Das ist nicht dasselbe«, sagte sie schmollend. »Du hast keinen steifen Nacken.«
»Und du hast einen? Wie die Leute in Israel?« lachte er. »Wir hätten dich Rose von Sharon nennen sollen.«
Neugierig, wie sie war, bestand sie normalerweise auf eine Erklärung der Witze, die sie nicht verstand, aber heute morgen sagte sie nur irritiert: »Sei nicht dumm.«
»Ich werde es versuchen«, erwiderte Pascoe seufzend und stand auf. »Bis heute abend.«
Als er sie küßte, fühlte ihre Haut sich sehr warm an.
An der Tür sagte er zu Ellie: »Sie scheint wirklich ein bißchen fiebrig zu sein.«
»Das wärst du auch, wenn du einen ganzen Tag in der Sonne rumgelaufen wärst«, entgegnete Ellie.
»Oh, das bin ich«, sagte er. »Und heute werde ich es bestimmt wieder tun.«
»Tja, dann setz deinen Sonnenhut auf«, meinte Ellie betont fröhlich. Sie hatte am vorigen Abend seinen traurigen Ausführungen über die ergebnislose Suche gelauscht, ihn eine Weile im Arm gehalten, dann einen großen Whisky eingeschenkt und heiter über Rosies Ausflug geplaudert. Zuerst hatte er gedacht, daß sie ihn ablenken wollte, aber dann merkte er, daß sie sich selbst ablenkte – von ihrem Mitgefühl für Elsie Dacre. Also hatte er den Fernseher eingeschaltet, damit sie beide abgelenkt wurden, und war bei einer nächtlichen Diskussionsrunde über das zunehmende Problem jugendlicher Ausreißer hängengeblieben. Ein Psychiaterin namens Paula Appleby, die aufgrund ihrer extremen Ansichten, sprachlichen Kompetenz und fotogenen Erscheinung die Stimmung äußerst medienwirksam anheizte, sagte dort: »Wenn ein Kind verschwindet, sollte man nicht einfach nur nach dem Kind suchen, sondern sich auch die Eltern vornehmen, die oftmals der Grund für das Verschwinden sind, und dann die Polizei, die eher ein Teil des Problems darstellt als seine Lösung.«
»Zeit fürs Bett«, hatte Pascoe kommentiert und ausgeschaltet.
Nun blickte er auf das strahlende Blau des Himmels und vermutete, daß einige Stunden zuvor die dunkel umränderten müden Augen der Dacres den Wechsel von Schwarz zu Grau, zu Rosa und Gold beobachtet und in dem wiederkehrenden Licht und Vogelgezwitscher vielleicht ein Zeichen für wiedererwachte Lebensgeister und Hoffnung gesucht hatten.
Und dann ging er in Gedanken den Leichenpfad hinauf und über den sonnenbestrahlten Neb und sah hinunter auf das Tal von Dendale, wie es sich mit Licht füllte.
Ihm war, als sähe er weit unten eine schattenhafte Gestalt, die zum güldenen Rand des Berges hinaufblickte, ihre Arme in freudigem oder höhnischen Gruß in die Luft warf, und dann nackt und stumm in den stillen dunklen Wassern des Sees versank.
Jetzt habe ich schon Visionen am hellichten Tag, dachte er. War das besser oder schlechter, als im Dunkeln zu erwachen und den Schlammgeruch von Passchendaele in der Nase zu haben?
»Peter!« rief Ellie in einem Ton, der ihm verriet, daß sie ihn schon einmal angesprochen hatte.
»Entschuldige«, sagte er. »Ich war Meilen entfernt.«
»Das hab ich gesehen. Peter, meinst du nicht …«
Doch der Moment war noch nicht reif. Eine Stimme rief: »Schon wieder so ein verdammt schöner Morgen!«, und sie sahen den Postboten die Auffahrt heraufradeln. Er händigte Pascoe zwei Päckchen aus, ein großes und ein kleines. Beide waren an Ellie adressiert, aber als er sie ihr entgegenhielt, nahm sie nur das kleine und ignorierte das andere.
»Oh, gut«, sagte sie, als sie es aufriß. »Die Mahler-CD.«
»›Kindertotenlieder‹. Genau das richtige für einen strahlenden Sommertag«, meinte er, nahm ihr die CD ab und drückte ihr das große Päckchen mit dem wohlbekannten Verlagslogo in die Hand. »Und was ist damit?«
»Wenn ich aufgeheitert werden will, höre ich Mahler.«
»Vielleicht haben sie dir das Manuskript nur zurückgeschickt, damit du ein paar kleine Änderungen vornimmst«, meinte er aufmunternd.
»Quatsch«, sagte Ellie. »Ich hab so sensible Fingerspitzen, daß ich das ›Stecken Sie sich Ihr Manuskript in den Sowieso‹ durch sechs Schichten Verpackung spüren kann. Blöde Veranlagung.«
Sie war entschlossen, nicht über ihren Roman zu reden. Pascoe betrachtete die CD, auf der die Silhouette eines Mädchens oder Cherubs im Profil abgebildet war, aus dessen Mund eine Notenzeile strömte. Er dachte dabei seltsamerweise an Dendale, obwohl keine offensichtliche Verbindung bestand. Dann entdeckte er den Grund. In der unteren rechten Ecke standen, genau wie auf der Landkarte in der Dendale-Akte, die Initialen E. W. Diesmal handelte es sich natürlich nicht um Edgar Wield, sondern, wie der Text auf der Rückseite der CD ihm bestätigte, um Elizabeth Wulfstan.
»Hat den Text übersetzt, singt die Lieder, malt das Cover; ich frage mich, ob sie auch alle Instrumente spielt«, meinte er lakonisch.
»Sehr wahrscheinlich. Manche Leute haben eben sehr viele Talente, und darum bleiben für die anderen so wenig übrig«, entgegnete Ellie deprimiert.
»Irgendwann ist es soweit, Liebling. Wirklich. Du hast mehr schriftstellerisches Talent im kleinen Finger als all diese Londoner Arschlöcher, die sich in den Sonntagsrezensionen gegenseitig in selbigen hineinkriechen«, erklärte er loyal und nahm sie in den Arm.
Sie hielten einander fest, als müßte er nach einem allzu kurzen Urlaub wieder an die Front.
Dann stieg er in seinen Wagen und fuhr davon.
Drei
»Wie oft?« fragte Pater Kerrigan.
»Fünfmal.«
»Gütiger Gott! Immer mit demselben Burschen, ja?«
»Ja, Vater«, antwortete Detective Constable Shirley Novello indigniert.
»Und auch am heiligen Sonntag?«
»Macht es das schlimmer?«
»Es macht es nicht besser. Fünfmal. Ich gebe dem heißen Wetter die Schuld. Ist es jemand aus meiner Gemeinde? Nein, sag’s nicht. Ich werde ihn schon an seinem gegrämten Gang erkennen. Ist das der Grund, weshalb ich dich gestern nicht im Gottesdienst gesehen habe? Warst du zu sehr damit beschäftigt, Unzucht zu treiben?«