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Doch sein Mitgefühl drängte ihn nicht zur unermüdlichen Suche nach diesem Mann, diesem Monster, das verantwortlich für das Verschwinden der Kinder war. Nein, er wollte nichts anderes, als nach Hause zu gehen, dort zu bleiben und ewig bei seinem eigenen Kind zu wachen. Die Welt vergessend, vergessen von der Welt. Bestell deinen eigenen Garten. So etwas wie Gemeinschaft gibt es nicht.

Aber das wäre, so sagte er sich streng, als würde man den massiven Stein wegschrubben und die roten Buchstaben in der Luft hängen lassen.

Seine introspektiven Gedanken hatten ihn per Autopilot durch Danby gebracht, und plötzlich fand er sich vor St. Michael’s Hall wieder. In der Nähe des Haupteingangs war ein Parkplatz für ihn reserviert. Er schmunzelte. Wie erwartet, hatte Wield alles unter Kontrolle.

In der Zentrale empfing ihn wohlgeordnete Aktivität. Detective Sergeant Wield, vor den Kollegen dienstlich korrekt, erhob sich und sagte: »Guten Morgen, Sir.«

»Morgen«, erwiderte Pascoe und dachte, daß wahrscheinlich sogar die Maschinen einer Fabrik glatter liefen, wenn Wield sich blicken ließ. Nicht, daß sein Gesicht etwas Glattes hatte. Aber möglicherweise rührte sein Organisationstalent gerade daher, daß er aussah wie ein Urviech kurz nach dem Urknall.

»Schön, solch einen geschäftigen Bienenstock zu sehen«, fuhr er fort. »Haben wir alles, was wir brauchen?«

»Außer einem Kühlschrank, aber der wird bald geliefert«, antwortete Wield.

»Ein Kühlschrank? Erwarten Sie Gewebeproben?«

»Für kalte Getränke«, erklärte der Sergeant. »Aber ich kann Ihnen Kaffee anbieten. Und da ist eine Nachricht für Sie von Nobby Clark. Ich habe ihn getroffen, als ich kam. Er bestand ausdrücklich darauf, daß ich sie Ihnen persönlich aushändige. Ich glaube, Sie haben einen Fan gewonnen.«

Er sagte es mit unbewegtem Gesicht, wobei Wields Gesicht auch unbewegt recht bewegt aussah, was seiner Unergründbarkeit jedoch keinen Abbruch tat. Allerdings kam diese Bemerkung einer homosexuellen Schäkerei näher als alles andere, was Pascoe je von ihm gehört hatte.

Pascoe öffnete den Umschlag. Darin befand sich ein Stück Papier mit der Aufschrift JED HARDCASTLE.

»Das ist alles?« fragte Pascoe. »Sonst keine Nachricht?«

»Er hat was von Farbe gesagt«, kommentierte Wield und reichte Pascoe einen Becher Kaffee. »Ich hatte das Gefühl, er wollte Ihnen was geben, das Sie aus dem Hut zaubern können.«

»Gott schütze mich vor der Dankbarkeit der Einfältigen«, meinte Pascoe. »Was soll ich jetzt tun? Andy erzählen, ich hätte den Graffiti-Künstler als Jed Hardcastle identifiziert, nur daß ich weder weiß, wer er ist, noch wo er lebt oder sonst irgendwas?«

»Sohn von Cedric und Molly Hardcastle«, informierte ihn Wield. »Bruder von Jenny, dem ersten verschwundenen Mädchen in Dendale. Derzeitige Adresse: Stirps End, Danby.«

»Ach, der Jed Hardcastle«, sagte Pascoe und stöhnte verärgert, daß er trotz seines Studiums der Dendale-Akte nicht darauf gekommen war. Himmel, sein Kopf sträubte sich wirklich, sich mit Fakten auseinanderzusetzen!

Er nippte an seinem Kaffee und sagte: »Also noch eine Verbindung mit dem letzten Mal.«

»Dem letzten Mal?«

»Dendale.«

»Oh. Ist das jetzt offiziell? Daß Dendale das letzte Mal war?«

»Der Dicke scheint es zu denken. Er hat mich die Akte lesen lassen. Und mich gestern abend sogar den ganzen Leichenpfad raufgescheucht.«

»Hat er das? Tja, das klingt ziemlich offiziell.«

»Sie scheinen nicht gerade erfreut darüber.«

»Ich glaube, es ist noch etwas früh, um von diesem Mal und letztem Mal zu reden, das ist alles.«

»Was ist mit diesem Burschen Lightfoot?« bohrte Pascoe. »Sie müssen ihn doch kennen. Was dachten Sie so? Manche Leute hielten ihn wohl für den Dorftrottel, aber ich hab gehört, daß er eigentlich ganz helle war.«

»Oh, der war helle genug. Aber er hatte was Komisches an sich. Als käme er aus einer anderen Welt.«

Eine so unpräzise Angabe war untypisch für den Sergeant.

»Was meinen Sie mit ›andere Welt‹? Himmel? Hölle? Jupiter? Wales?«

»Nein, nicht ganz so weit entfernt«, schmunzelte Wield. »Seine andere Welt war … Dendale.«

»Das verstehe ich nicht«, meinte Pascoe. »Gut, da hat er gelebt, und ich weiß, daß er nach dem Umzug seiner Mutter so unglücklich war, daß er zur Großmutter zurücklief. Aber es gibt viele Menschen, die so sehr an ihrer Heimat hängen, daß man sie mit Dynamit wegsprengen müßte.«

»Aus Dendale hat man sie mit Dynamit weggesprengt«, sagte Wield trocken. »Natürlich war das für die meisten eine Entwurzelung, aber Wurzeln wachsen in ähnlicher Erde wieder an. Die Mehrheit hat sich hier in und um Danby wieder angesiedelt, und soweit man sehen kann, geht es ihnen ja recht gut. Aber der eine oder andere … na ja, seit ich in Enscombe lebe, sehe ich die Menschen und das, was sie ihre Heimat nennen, aus einer anderen Perspektive. Keiner von uns will da weg. Mir geht es zumindest so, und ich wohne noch nicht mal lang genug da, um mein eigenes Gewicht geschissen zu haben, wie man dort sagt. Aber ich kenne Leute, die man bestimmt nicht entwurzeln kann – höchstens auf Bodenhöhe absägen.«

»Und Lightfoot war so einer?«

»Bis zu einem gewissen Grad. Sie kennen doch den Ausspruch ›Hier gehöre ich hin‹. Normalerweise ist es nur eine Redewendung, aber in Lightfoots Fall hat es wortwörtliche Bedeutung. Der Ort besitzt den Menschen sozusagen. Im Guten und im Schlechten. Auf Gedeih und Verderb.«

»Halten Sie ein, Wieldy«, sagte Pascoe, »Sie klauen mir ja den Text. Ich bin doch hier der Mann fürs Metaphysische! Sie sind Mr. Microchip, der Mann mit den spitzen Ohren.«

Wieldy kratzte sich an einem der besagten Organe, die zwar relativ groß, jedoch in keiner Weise spitz waren.

»Das zeigt mal wieder, was das Landleben aus einem machen kann«, meinte er.

Wie vorher bereits Shirley Novello, fand es nun auch Pascoe schwer zu sagen, ob das ein Witz war oder nicht, aber er lachte vorsichtshalber trotzdem. Das Leben war ungewiß genug, auch ohne die Möglichkeit aufkommen zu lassen, daß der urgesteinige Freund einen weichen Kern hatte.

Er sagte: »Aber ich stimme Ihnen zu, daß wir uns auf dieses Mal konzentrieren sollten. Halten wir uns an das, was wir haben. Es gab einige Aussagen über auffällige Fahrzeuge …«

»Darauf hab ich Novello angesetzt«, sagte Wield. »Und vor ein paar Minuten ist das hier für sie durchgekommen. Hat wahrscheinlich mit den Fahrzeugen zu tun, aber sie ist leider nicht hier, um Genaueres zu erklären.«

»O doch, sie ist hier«, sagte Pascoe, der Novello gerade durch die Tür kommen sah. Während sie näherkam, warf er einen Blick auf den Zettel, den Wield ihm in die Hand gedrückt hatte. Es war eine Liste aller grüner Land Rover Discovery, die letztes Jahr im Ort angemeldet worden waren.

»Morgen, Novello«, sagte er.

Dalziel nannte sie Ivor. Pascoe hatte dafür Sorge getragen, daß niemand sonst das tat. Exzentrischen Führern sollte man folgen und sie nicht imitieren, sonst wären auf Lord Nelsons Victory nur einäugige Seeleute in die Schlacht vor Trafalgar gezogen.

»Morgen, Sir«, erwiderte sie und blickte leicht verunsichert auf die Liste in seiner Hand. Pascoe vermutete, daß sie sie gern als erste bekommen hätte, um gleich ihre Erklärung mitliefern zu können. Wie Nobby Clark war auch sie noch in dem Stadium, in dem man dachte, daß aus dem Hut gezauberte Kaninchen die hohen Tiere beeindruckten. Anders als Nobby Clark würde sie diesem Stadium aber vermutlich irgendwann entwachsen. Ihr Gesicht, das zwar nach konventionellen Maßstäben nicht schön zu nennen war, ließ Charakter und Intelligenz erkennen. Seit ihrem Beginn in der Abteilung vor einigen Monaten hatte sie sich gut eingearbeitet, war aber immer noch auf der Hut. Vielleicht war das für weibliche Polizeibeamte aber auch ein Dauerzustand, überlegte Pascoe. Oder war diese Erklärung zu einfach? Konnte er sie nicht irgendwie überzeugen, daß – zumindest hier in Mid-Yorkshire – niemand darauf lauerte, an ihrem Stuhl zu sägen?