Sie sah, daß Maggie Burroughs – mit einem sehr inoffiziellen Strohhut auf dem Kopf – sich an der heruntergeklappten Heckrampe über eine Landkarte beugte und in ihr Funkgerät sprach. Und in einiger Entfernung standen Sergeant Clark und Peter Pascoe, hemdsärmelig und mit beginnendem Sonnenbrand auf der blassen Haut, ins Gespräch vertieft.
Novello folgte dem Verlauf des Tales über den zweireihigen Suchtrupp hinweg, der etwa eine halbe Meile vor dem Range Rover das Gebiet durchkämmte, bis sich das Talende durch den Schlenker ostwärts ihren Blicken entzog.
Und schließlich, nach einer Drehung um dreihundertsechzig Grad, sah sie das Talstück direkt zu ihren Füßen vor sich.
Das war nun wirklich interessant. Das Tal wurde zum oberen Ende hin immer schmaler, und da dieser Aussichtspunkt etwas vorgelagert war, lag der tiefe Graben, der weiter oben den Flußlauf zu erkennen gab, hier relativ nahe. Natürlich blieb durch die Hügel und Unebenheiten des Geländes viel verborgen, aber ein Mann, der hier oben stand und ein Kind beobachtete, das am Bach spazierenging, sagen wir mal da, hätte keinerlei Schwierigkeiten, den Hang hinunterzulaufen, der auf dieser Seite viel flacher war als am Neb, und sie etwa dort abzufangen.
Sie setzte das Fernglas ab und betrachtete das Ganze mit bloßem Auge. Nun war natürlich alles viel weiter entfernt. Allerdings sprach nichts dagegen, daß ein Mann, der hier anhielt, ebenfalls ein Fernglas dabeihatte. Und damit ein kleines Mädchen beobachtete, das ganz allein spazierenging, nur mit ihrem kleinen Hund …
Doch das war reine Theorie und nichts, das man vor der Heiligen Dreifaltigkeit hätte präsentieren können. Gestützt durch ein paar relevante Fakten allerdings …
Sie suchte den Boden am Parkplatzrand nach Hinweisen dafür ab, daß jemand den Abhang hinuntergestiegen war. Schnell mußte sie erkennen, daß sie damit nur ihre Zeit vergeudete. Sie war kein Indianer, der erkennen konnte, wer wann wo vorbeigekommen war. Außerdem war vermutlich jedes Kind, das hier mit seinen Eltern Rast gemacht hatte, den Hang hinuntergerannt.
Sie ging zum Wagen zurück, holte ein Paar Plastikhandschuhe und hob den Müllsack aus dem Abfalleimer. Er war randvoll. Dies war gestern bestimmt ein beliebter Rastplatz gewesen, und eine Sonntagszeitung obenauf ließ vermuten, daß der Mülleimer seither nicht geleert worden war. Sie kippte den Inhalt auf die Erde und begann, die unteren Schichten zu durchsuchen. Aus ihrem Lateinunterricht in der Klosterschule kam ihr das Wort haruspex in den Sinn: ein Hellseher, der aus den Eingeweiden von Tieren weissagte. Das wäre ein guter Name für diese FBI–Leute, von denen sie gelesen hatte, die sich auf die Untersuchung von Haushaltsmüll spezialisiert hatten. Vielleicht hatte Scotland Yard auch ein paar solcher Leute unter Vertrag, aber im Trainingsprogramm der Polizei von Mid-Yorkshire stand es nicht gerade an erster Stelle. Möglicherweise hätte ein Experte mit den leeren Nahrungsmittelverpackungen, die den größten Teil des Abfalls ausmachten, mehr anfangen können, aber Novello konzentrierte sich auf den Rest und hatte nach einigen Minuten eine 3-Volt-Lithium-Batterie herausgesucht, wie sie in manchen Fotoapparaten verwendet wurde, eine leere Marlboro-Lights-Schachtel, zwei Sonntagszeitungen (eine seriöse, ein Revolverblatt), einen kaputten Ohrring und ein Papiertaschentuch mit einem braunen Fleck, der Blut sein konnte.
Diese Sachen packte sie in eine Extratüte und den Rest wieder in den Müllbeutel, den sie mit Klebeband verschloß und in ihren Kofferraum warf. Sie hatte nicht wirklich die Hoffnung, daß irgend etwas davon mit dem Fall zu tun haben könnte, aber wenn doch, so wollte sie Dalziel nicht sagen müssen, daß der Rest etwaiger Beweisstücke in irgendeiner Mülldeponie gelandet war.
Nun studierte sie ihre Landkarte. Es gab vier Bauernhöfe, bei denen sich ein Besuch lohnen könnte. Hier hatte sie große Hoffnungen. Und ein gutes Gefühl.
Einige Stunden später, als sie über vertrocknete Heidebüschel stapfte und sich die Knie und Ellbogen an den steinernen Grenzmäuerchen aufschürfte, war von ihrem Gefühl nichts weiter übrig als schmerzende Muskeln und durch die Hitze wundgescheuerte Achselhöhlen. Die Höfe hatte sie zwar gefunden, aber niemanden, der am Sonntagmorgen irgend etwas gesehen hatte.
Doch sie war fest entschlossen, daß Halbherzigkeit nicht zu den Anschuldigungen gehören sollte, die sie sich möglicherweise würde anhören müssen. Gründlichkeit, so hatte ihr eine alte Lehrerin einmal gesagt, war eine Belohnung in sich selbst. Das war immerhin ein Trost, denn als sie den letzten Hof verließ, mußte sie zugeben, daß sie bislang noch nichts anderes eingebracht hatte.
So machte sie sich schließlich auf den Weg zum Highcross Inn.
Sechs
Nur für Anwohner mit Parkschein« stand an Anfang und Ende der Holyclerk Street.
Dalziel scherte knapp vor einer älteren Dame in eine Parklücke ein. Die Frau starrte erbost auf seine Windschutzscheibe, um den Parkausweis zu kontrollieren, sah keinen und schickte sich an, aus ihrem Wagen zu steigen. Dann erblickte sie das breite Gesicht, das sie mit der Güte eines Buddhas beobachtete, fühlte ihre Wut verpuffen und fuhr weiter.
Wäre sie ihrer ersten Eingebung gefolgt und hätte Dalziel ein brennendes Streichholz in den Tank geworfen, wäre das in dieser Straße nichts Neues gewesen. Es gab nur wenige menschliche Schwächen und Gelüste, die die Holyclerk Street im Laufe der Jahrhunderte nicht erlebt hatte.
Ihr Name verband die Straße mit der großen Kathedrale, die über den Wohnhäusern aufragte wie ein Ozeanriese neben einer Flotte Fischerboote. Sie befand sich im Glockenviertel, was bedeutete, daß jeder, der beim ersten Glockenschlag eines Gottesdienstes das Haus verließ, spätestens beim letzten seinen Platz in der Kirchenbank erreichte. Heutzutage kostete ein Haus im Glockenviertel normalerweise mindestens zwanzig Prozent mehr als ein Haus ohne Glockenruf, aber so war es nicht immer gewesen.
Die ursprünglich mittelalterliche Straße mit dem Priesterseminar, das ihr den Namen gegeben hatte, war unter der Regierung von Queen Anne fast vollständig verfallen und verkommen. Die Fachwerkhäuser waren in bedrohliche Schräglage geraten und so oft geflickt und gestützt worden, daß sie aussahen wie eine Reihe betrunkener Veteranen bei der Rückkehr aus einem verheerenden Krieg. Keiner Person von Rang oder Namen wäre es auch nur im Traum eingefallen, hier zu wohnen, und so waren die Gebäude zu üblen Spelunken, verlausten Gasthäusern und billigen Bordellen heruntergekommen.
Daß solch ein städtisches Geschwür nur einen Steinwurf von der Kathedrale entfernt wuchern konnte, wurde von manchem braven Bürger als Beleidigung sowohl gegen Gott als auch den Menschen erachtet. Da jedoch eine nicht unerhebliche Anzahl besagter braver Bürger Eigentümer jener Häuser und an deren Profiten beteiligt war, schob der Mensch die Heilung so lange hinaus, bis Gott ungeduldig wurde. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß der Wind günstig stand, ließ er in einer dunklen Septembernacht eine betrunkene Dirne und ihren altersschwachen Kunden auf der Treppe zu ihrem modrigen Lager straucheln und ihre Fackel wie einen Meteoriten durch ein Loch in den verrotteten Dielen bis in den Keller hinunter fallen, wo sie in einem offenen Faß illegalen Branntweins landete.
Das so entfachte Feuer hinterließ einen Schandfleck aus Asche, der viele Jahre lang als sichtbarer Beweis für den Zorn Gottes angesehen wurde. Doch als allmählich eine Barackensiedlung mit irischem Markt entstand, kamen die Stadtväter dieses Mal Gott zuvor, indem sie das Gebiet von allen unerwünschten Gebäuden und Gestalten säuberten und Häuser entwerfen ließen, die den kirchlichen Würdenträgern würdig waren.