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Diese eleganten Residenzen waren es nun, auf die Dalziels unbeeindrucktes Auge fiel. Er wußte wenig über mittelalterliche Geschichte und Feuersbrünste im achtzehnten Jahrhundert, aber er hatte die Epoche selbst erlebt, in der die Reichen ihren Reichtum durch Stadtflucht demonstrierten und dadurch Wohngegenden wie die Holyclerk Street in Studentenwohngemeinschaften und kurzfristig vermietete Büroräume zerfallen ließen. Doch die Kirche hatte ihren finanziellen Einfluß geltend gemacht, die Häuser gekauft und renoviert und dann einen Riesengewinn gemacht, als eine äußerst erfolgreiche Fernsehfassung der Barchester-Romane ein neues romantisches Licht auf Kirchgassen warf und das Wohnen im Glockenviertel wieder als schick galt.

Die Sonne ergoß ihr gleißendes Licht mitten auf die Straße, so daß kein Schatten zu finden war. Dalziel geriet in Versuchung, dem Beispiel des Wagenbesitzers zu folgen, der neben ihm sein weißes Cabriolet mit offenem Verdeck geparkt hatte und eine teure Hifi-Anlage zur Schau stellte. In dieser kirchlichen Umgebung war solches Vertrauen sicher gerechtfertigt. Er kurbelte das Fenster einen Spalt breit hinunter, ging ein paar Schritte, erinnerte sich plötzlich an einen Artikel über Veruntreuung von Kirchengeldern und kehrte zurück, um das Fenster bis zum Anschlag hochzukurbeln.

Als er dabei zum zweiten Mal an dem weißen Cabrio vorbeiging, bemerkte er, daß es ein Saab 900 war, Eigentum eines britischen Autoverleihs. Der Anwohner-Parkschein war befristet und auf Holyclerk Street Nummer 41 ausgestellt. Das Haus der Wulfstans.

Dalziel blickte zum Kirchturm hinauf, nickte beifällig und marschierte weiter.

Am Haus Nummer 41 lehnte er sich eine gute Sekunde auf die Türklingel, trat einen Schritt zurück und wartete.

In den frühen Zeiten dieser Nobelbehausungen, so vermutete er, waren die Türen sicher von Dienstmädchen mit Haube und Schürze geöffnet worden, aber heutzutage gab es Hausangestellte nur noch selten. Wahrscheinlich deshalb, weil die Leute, die solche Arbeit nötig hatten, nicht vor den Leuten zu buckeln bereit waren, die solche Arbeit vergeben konnten.

Die Frau, die ihm nun die Tür öffnete, erkannte er sofort wieder, obwohl es fünfzehn Jahre her war, daß sie sich zuletzt gesehen hatten.

Und an ihrem Gesicht sah er, daß auch sie ihn wiedererkannte.

»Mr. Dalziel«, sagte Chloe Wulfstan.

Das Alter hatte sie nicht sehr verändert. Tatsächlich wirkte sie viel jünger als beim letzten Mal, aber das war kaum verwunderlich. Damals hatte die Nachricht über den Tod der Tochter ihr nicht nur das Blut aus dem Gesicht weichen lassen, sondern ihren gesamten Körper ausgezehrt. Doch Dalziel hatte sie nie weinen sehen, und irgendwie wußte er, daß sie auch im stillen nie geweint hatte. Sie hatte all ihre Kraft zusammengenommen, um weiterleben zu können, auch wenn sie dazu alles Leid in ihrem Innern einschließen mußte.

Zu lamentieren hatte keinen Sinn.

Er sagte: »Es tut mir leid, Sie zu stören, Mrs. Wulfstan. Sie haben sicher von dem Mädchen gehört, das in Danby vermißt wird.«

»Es kam im Radio«, antwortete sie. »Und in der Zeitung heute morgen. Gibt es etwas Neues?«

Ihr Stimme war ruhig, formell und höflich, als wäre er der Vikar, der zum Tee eingeladen wurde. Dalziel erinnerte sich, daß man vor fünfzehn Jahren noch einen kleinen Akzent in ihrer Stimme hatte heraushören können, einen Hinweis auf ihre ländliche Herkunft. Sie hatte gebildet geklungen, aber eben auch wie ein Mädchen aus Mid-Yorkshire. Inzwischen war das ganz verschwunden. Sie hätte ein aktuelles Frauenmagazin im Fernsehen moderieren können.

Über ihre Schulter hinweg sah er den Hausflur mit Drucken musikalischer Szenen an den Wänden. Die breite Treppe hinunter erklangen Klaviertöne und der Gesang einer Frau.

»When your mother dear to my door draws near,

And my thoughts all centre there to see her enter

Not on her sweet face first of falls my gaze

But a little past her …«

Es ertönte eine Dissonanz, als hätte jemand mit der ganzen Hand auf die Tastatur geschlagen, und eine Männerstimme sagte: »Nein, nein. Zuviel, zu früh. An dieser Stelle versucht er immer noch, ganz ruhig zu bleiben, ganz rational im Hinblick auf sein irrationales Verhalten.«

Diese Stimme. Dalziel glaubte sie zu erkennen. Eigentlich beide Stimmen. Die Frau hatte er gestern morgen bei den Pascoes im Radio singen hören. Auch diese verdammten Lieder. Er erinnerte sich an das erste Mal, da er sie gehört hatte … Doch er konzentrierte sich wieder auf die Männerstimme. Dieses allzu perfekte Englisch. Das war bestimmt dieser Smörebröd. Obwohl Wield ihn immer wieder darauf hingewiesen hatte, daß Arne Krog Norweger und kein Schwede war, hatte Dalziel den dummen Spitznamen beibehalten. Dieser gelackte Pinsel hatte einst gewagt, sein Englisch zu korrigieren, und Dalziel war kein Gott der Vergebung.

»Mr. Dalziel?« riß Chloe Wulfstan ihn aus seinen Gedanken.

Er merkte, daß er ihre Frage nicht beantwortet hatte.

»Nein. Nix Neues«, sagte er.

»Das tut mir leid. Wie geht es … nein, das brauche ich nicht zu fragen.«

»Den Eltern? Wie zu erwarten. Die Mutter kennen Sie wahrscheinlich. Stammt auch aus Dendale. Elsie Dacre, geborene Coe.«

»Margaret Coes Tochter? Ach nein! Margaret war letztes Jahr sehr krank. Ihre Genesung war wie ein Wunder. Jetzt frage ich mich, ob es nicht ein Fluch war. Ist es schlecht, so etwas zu sagen, Mr. Dalziel?«

Er zuckte gleichmütig mit den Schultern. Daß er nicht gewillt war zu urteilen, bedeutete allerdings nicht, daß er sich nicht für kompetent hielt.

Nachdenklich fuhr sie fort: »Ich hatte mich daran gewöhnt, schlimme Dinge zu denken, wissen Sie. Wenn ich die mitleidigen Gesichter sah, von Frauen wie Margaret Coe, dann dachte ich immer: im Grunde bist du doch froh, daß es mich getroffen hat und nicht dich – daß meine Mary verschwunden ist und nicht deine Elsie oder …«

Sie hielt inne, als habe sie jemand an ihre Pflichten als Gastgeberin erinnert, und sagte abrupt: »Wollten Sie Walter sprechen, Mr. Dalziel? Er ist da, aber mitten in einer Besprechung wegen des Festivals. Sie müssen einen neuen Saal für das Eröffnungskonzert finden … aber das wissen Sie natürlich. Es ist sehr unhöflich von mir, Sie hier auf der Türschwelle stehen zu lassen. Kommen Sie doch herein. Ich werde ihm sagen, daß Sie hier sind.«

Dalziel trat ins Haus. Es war eine Erleichterung, der direkten Sonnenbestrahlung zu entfliehen, aber selbst mit rundum geöffneten Fenstern folgte die Hitze ihm nach.

Man sollte meinen, daß jemand, der mit Sonnenenergie sein Geld verdient, eine Klimaanlage installiert hätte, dachte Dalziel mißmutig.

Chloe Wulfstan klopfte leise an eine Tür, öffnete sie und schlüpfte ins Zimmer.

Bei seinem kurzen Blick in den Raum, ein altmodisches Arbeitszimmer mit Eichenpaneel, erspähte Dalziel drei Personen, eine von vorn, eine im Profil und eine nur von hinten in einem Lehnstuhl. Beim Anblick dieses Hinterkopfes spürte er, wie sich einen Augenblick lang etwas in ihm zusammenzog – sein Magen, sein Herz, es war anatomisch nicht genau zu orten, aber es war ein Gefühl, das er schon sehr lange nicht mehr empfunden hatte.

Die Tür öffnete sich wieder, und Mrs. Wulfstan kam heraus. In der oberen Etage hatte erneut das Klavier eingesetzt.

»But a little past her seeking something after

There where your own dear features would appear

Lit with love and laughter …«

Die Frau im Lehnstuhl hatte den Kopf gedreht und sah zur Tür. Ihre Blicke trafen sich. Dann schloß sich die Tür abermals.

»Wenn Sie ihm wohl eine Minute Zeit geben könnten«, sagte Chloe Wulfstan entschuldigend. »Dann kann er die Besprechung beenden, und die anderen Komiteemitglieder müssen nicht warten, während er mit Ihnen redet. Hier hinein, bitte.«