Sie führte ihn in ein Wohnzimmer im hinteren Teil des Hauses, in dem die weit geöffneten Terrassentüren auf einen langen Garten hinausführten, dessen Rasen die Dürre deutlich anzusehen war.
»Es ist natürlich eine Versuchung«, sagte sie, als sie seinen Blick bemerkte. »Aber ich fürchte, wir sind alle zu Wasserwächtern geworden, und wenn irgend jemand findet, daß unser Rasen ein wenig zu grün aussieht … Ist ja auch richtig so. Nur, wenn man überlegt, daß wir Dendale verließen, um für alle Zeiten genug Wasser zu haben … da kommt man schon ins Grübeln, oder?«
Ihre Stimme klang nun höflich und heiter.
»Ja, das stimmt«, antwortete er. »Der Stausee ist fast ganz ausgetrocknet. Sind Sie jemals wieder hingegangen und haben es sich angesehen, Mrs. Wulfstan?«
»Nein. Noch nie, Mr. Dalziel.«
Er musterte sie einen Augenblick, während er an seiner dicken Unterlippe zog. Es wirkte wie ein skeptischer, abschätzender Blick, doch in Wahrheit sah er durch sie hindurch ein ganz anderes Gesicht.
»Möchten Sie etwas Kaltes trinken?« fragte Chloe Wulfstan.
»Was? Ja, das wäre nett«, erwiderte er. »Ach, übrigens, der Wagen da draußen, der weiße Saab mit …«
»Der gehört Arne. Erinnern Sie sich noch an ihn? Arne Krog, der Sänger. Er wohnt das Festival über bei uns. Inger auch. Seine Klavierbegleitung. Sie wohnt auch hier.«
»Na klar. Wo sie ihn doch begleitet«, sagte Dalziel. Er lächelte, um zu zeigen, daß er einen Scherz hatte machen wollen, aber sie sah ihn nur leicht verwirrt an und verließ das Zimmer.
Alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen, und Dalziel begann sofort, den Raum zu durchwandern, die Schriftstücke in einem geöffneten Sekretär zu überfliegen, die eine oder andere Schublade aufzuziehen. Aber er war nicht ganz bei der Sache. Über ihm war das Klavier erneut verstummt, und er hörte wiederum ein hitziges Wortgefecht. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und eine große schlanke Frau kam ins Zimmer. Sie trug eine schwarze Hose und ein schwarzes T-Shirt, was ihre blasse Haut und die hellen langen Haare noch betonte. Als sie Dalziel erblickte, blieb sie abrupt stehen und betrachtete ihn ungerührt aus schiefergrauen Augen. Im Vergleich zu ihrem restlichen Körper, der wohl um die zwanzig war, erschienen diese Augen irgendwie alterslos.
Er zählte zwei und zwei zusammen und sagte: »Wie geht’s, Miss Wulfstan? Ich bin Detective Superintendent Dalziel.«
Falls er gedacht hatte, daß sein Scharfsinn sie beeindruckte, so wurde er enttäuscht. Wenn überhaupt, dann schien sie lediglich amüsiert, und ein schwaches Lächeln erhellte ihr regloses Gesicht wie der erste Sonnenstrahl einen Bergsee.
»Wie geht’s, Superintendent? Kümmert sich wer um Sie, oder sind Sie grad erst reingewalzt?«
Einen Moment lang dachte er, sie wolle ihn verarschen, weil sie seinen Dialekt nachahmte. Ehe er sich zwischen der verblümten (Rauhen Hals vom Singen, Herzchen?) und der unverblümten Retourkutsche (Aus Ihnen könnte noch ’ne nette Frau werden, wenn Ihr Hirn mal so reif ist wie Ihre Titten!) entscheiden konnte, trat eine andere Frau in den Raum, ebenfalls blond, jedoch kleiner, kräftiger gebaut und etwa zwanzig Jahre älter.
Sie sagte: »Sind wir fertig? Wenn ja, dann lege ich mich ein bißchen in die Sonne.«
»Wieso fragst du mich, Herzchen? Ich bin’s nicht, die hier den ganzen Radau veranstaltet. Am besten, du fragst den Herrn und Meister. Ihn, der alles weiß!«
Der Yorkshire-Akzent. Also war es doch keine Veräppelung gewesen. Dalziel war erleichtert, daß er nichts erwidert hatte, aber nur ein bißchen. Verlegenheit stand nicht sehr weit oben auf seiner Liste der schmerzlichen und sträflichen Eigenschaften.
»Arne wird dir helfen, solange du seine Hilfe willst«, erwiderte die andere.
Es war Inger Sandel, die Pianistin. Sie hatte in den fünfzehn Jahren ein wenig zugenommen, und Dalziel hätte ihr Gesicht wohl nicht mehr erkannt. Aber die Stimme mit dem harten skandinavischen Akzent kitzelte seine Erinnerung. Nicht, daß sie vor all den Jahren viel gesprochen hätte. Das hatte nichts mit der fremden Sprache zu tun gehabt. Wenn man vom Akzent einmal absah, war ihr Englisch nämlich exzellent. Es war nur so, daß sie nie mehr sagte, als die Situation erforderte. Vielleicht hob sie sich alle ausdrucksvolle Kraft für ihr Spiel auf, aber selbst in dieser Hinsicht hatte sie sich nur für eine Rolle als Begleitung entschieden. In seinem Kopf hörte er die Stimme, die zu dem am Türrahmen spähenden Gesicht gehörte, sagen: »Bei einem Liederabend sind Pianist und Sänger gleichberechtigte Partner.« Aber für Andy Dalziel war der begleitende Musiker trotzdem nur jemand, der einen lenkenden Rhythmus lieferte, während die Jungs an der Bar ihre Liebe zu Annie Laurie hinausbrüllten oder ihren Haß gegen Adolf Hitler.
»Hilfe?« rief Elizabeth Wulfstan. »Ewiges Herumnörgeln nennst du also Hilfe, oder wie?«
Sie klang kaum aufgebracht, und es hörte sich an wie eine echte Frage.
»Ich denke, du kannst dich glücklich schätzen, jemanden mit Arnes Erfahrung zu haben, der dich berät«, entgegnete Inger nüchtern.
»Findest du? Tja, wenn er so verdammt gut ist, warum singt er dann nicht in der verdammten Scala?«
»Weil Mid-Yorkshire um diese Jahreszeit um einiges kühler ist als Mailand, oder zumindest war das früher einmal so«, sagte Arne Krog, dessen perfektes Timing Dalziels Meinung nach vermutlich daher rührte, daß er im Flur gelauscht und auf ein passendes Stichwort gewartet hatte. Wichser. Aber man konnte nicht leugnen, daß der Smörebröd immer noch gut aussah. Ein wenig voller überall, aber immer noch diese geschmeidigen Bewegungen, dasselbe gutaussehende Gesicht mit dieser Spur stiller Amüsiertheit um den Mund, die Dalziel einst zur Weißglut gebracht hatte.
Beim Anblick des dicken Detective wurde dieses Gesicht allerdings ganz und gar ernst, und Arne Krog kam mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. »Mr. Dalziel, wie geht es Ihnen? Es ist lange her.«
Sie gaben einander die Hand.
»Schön, Sie zu seh’n, Mr. Krog«, sagte Dalziel. »Tut mir nur leid wegen der Umstände. Sie haben wahrscheinlich gehört, daß seit gestern in Danby ein kleines Mädchen vermißt wird. Wir sprechen mit möglichen Zeugen.«
»Und da sind Sie zu mir gekommen«, meinte Krog nickend, als wolle er etwas bestätigen, das er bereits erwartet hatte. »Ja, natürlich, ich war gestern in Danby, aber ich glaube nicht, daß ich Ihnen helfen kann. Aber bitte, stellen Sie Ihre Fragen. Vielleicht habe ich etwas gesehen, dessen Bedeutung mir nicht bewußt ist.«
Dalziel war von seiner Offenheit wenig beeindruckt. Sein Auto dick und breit gleich neben dem Ort des Verbrechens abzustellen konnte Unschuld, aber auch Impulsivität bedeuten. Und während man zunächst die Hoffnung hegte, man könnte vielleicht doch nicht gesehen worden sein, war es natürlich das schlaueste, es beim ersten gegenteiligen Anzeichen sofort zuzugeben.
Er sagte: »Das ist gut möglich. Sie haben am Rande des Ligg Common geparkt, stimmt das?«
Er hatte sich blitzschnell entschieden, ihn in Anwesenheit der beiden Frauen auszufragen. Das machte die Sache zwangloser, weniger bedrohlich. Außerdem bekam Krog dadurch ein Publikum, das ihn sehr viel besser kannte als Dalziel. Obwohl wenig Aussicht bestand, daß ein in Auftritten derart geübter Mann Lampenfieber bekam, so konnte es doch sein, daß seine Zuhörer bei Anzeichen von Schauspielerei aufmerksam wurden und auffällig reagierten.
Keine der Frauen machte Anstalten, den Raum zu verlassen.
»Das ist richtig.«
»Warum?«
Viele Leute hätten jetzt Erstaunen gezeigt oder gespielt und ihn gebeten, deutlicher zu werden. Nicht so Krog.
»Ich war unruhig gestern morgen und fühlte mich beengt durch die Hitze und die Stadt. Also fuhr ich hinaus aufs Land. Ich hatte Lust auf einen Spaziergang, irgendwo allein und in frischer Luft, so daß ich meine Lungen freisingen könnte, ohne daß ich jemanden erschrecke, außer vielleicht ein paar Schafe. Ich fuhr nach Danby, weil ich die Landschaft dort kenne. Schon mehrmals habe ich in der St. Michael’s Hall gesungen, und ich gehe immer gern eine Runde spazieren, bevor ich auftrete.«